w/WDR BIG BAND
Jazzline N 77036 (CD)
HOMECOMING
Beschreibung
Homecoming. Dass es im Jazz einige Kompositionen mit diesem Titel gibt, mag kaum verwundern. Insbesondere für den dauerreisenden Improvisatoren, diesen postmodernen Nomaden, ist die Rückkehr nachhause, in die eigenen vier Wände, zur Familie, etwas, das er während der Dauerschleife von Flugzeug-Hotel-Bühne-Hotel-Flugzeug wie kaum etwas anderes ersehnt (auch wenn es ihn bisweilen nach wenigen Tagen daheim wieder hinauszieht…).
Home kann vieles bedeuten: für manchen die Bühne, für andere einen imaginären Ort, den man sich erträumt. In Amerika bezeichnet Homecoming zudem eine jährliche Feier von Universitäten, High Schools und Colleges zu Ehren ehemaliger Studenten und Schüler. Wer will, kann jenes homecoming aber auch auf Vince Mendozas Heimkehr zu seiner erklärten ersten Liebe, zum Jazz beziehen. Oder auf das neuerliche Zusammentreffen mit jenem Klangkörper, dem er sich seit über zwei Dekaden eng verbunden fühlt, der WDR Big Band. Womöglich aber auch auf die willkommene Gelegenheit, wieder einmal eigene Musik zu schreiben. All dies und vielleicht noch einiges mehr mögen in diesem homecoming zusammenkommen.
Vince Mendoza vorzustellen, das hieße Eulen nach Athen zu tragen. Gerade in Europa, wo eben jene WDR Big Band es war, die ihm Türen öffnete. Eine musikalische Visitenkarte muss er nicht mehr abliefern, aus einer ersten Kontaktaufnahme mit dem Kölner Klangkörper ist längst eine künstlerische Langzeitbeziehung geworden. Homecoming ist aber insofern dann doch eine Visitenkarte, als er uns nicht nur einen Einblick in seine Klangwelten verschafft, sondern – und das ist das Entscheidende – einen wahrlich repräsentativen. Dieses Privileg einem Tonsetzer zu verschaffen, ist immer noch eine der wunderbaren Möglichkeiten, die der hiesige Öffentlich-rechtliche Rundfunk bietet.
Dies muss beileibe nicht immer in Sternstunden münden. Es bedarf kaum geheimdienstlicher Tätigkeit der Jazzpolizei, um gut informierten Kreisen das Geständnis zu entlocken, dass Big-Band-Musiker mit dem einen oder anderen Projekt nicht allzu glücklich sind und bisweilen auch die Chemie zwischen Orchester und dem als Materiallieferanten eingeladenen Gast nicht die allerbeste ist. Doch die Verbindung der WDR Big Band zu Vince Mendoza – und vice versa – erwies sich von Anfang an als eine glückliche.
Wie sehr in Köln seine kompositorische Handschrift geschätzt wird, zeigte sich nicht nur in der Bitte an ihn, 2014 ein Konzertprogramm zu erarbeiten und live zu präsentieren (es auch auf CD zu dokumentieren, spricht ein Übriges für das gegenseitige Vertrauen). Das Wissen um seine schreiberischen Qualitäten und der Wille, sie für die Orchesterarbeit nicht nur zu nutzen, sondern auf eine geregelte und längerfristig ausgerichtete Basis zu stellen, führte zu dem Entschluss, ihn mit Beginn der Spielzeit 2016/2017 als Composer in Residence der Big Band zu etablieren. Damit wird die Band von einer Art jazzmusikalischen „Doppel-Spitze“ geleitet, denn Bob Mintzer übernahm zeitgleich die Aufgabe des Chief Conductor (Beide unterrichten zudem an der University of Southern California in L.A.). Ein Gespann zweier Musiker, die beide Los Angeles ihr home nennen (Mintzer zog vor acht Jahren von New York an die Westküste) und beide seit langem einen Koffer in Köln haben. Bereits die erste professionelle Zusammenarbeit von Mintzer und Mendoza hinterließ Bemerkenswertes: Als der Saxophonist sich 1990 den Yellowjackets anschließt, entsteht mit Greenhouse ein kammermusikalisches Meisterwerk der Band – mit Orchester-Arrangements von Vince Mendoza. Sie kooperieren erneut, als Mendoza 1995 Chefdirigent des niederländischen Metropole Orkest wird.
Allein schon ein Blick auf Mendozas Diskographie mit der WDR Big Band erlaubt es, von einer Erfolgsgeschichte zu sprechen. Das Album Vince Mendoza/Arif Mardin Project: Jazzpaña (ACT, 1992) brachte ihm den German Jazz Award und zwei Grammy-Nominierungen ein, die CDs Randy Brecker w/Michael Brecker – Some Skunk Funk – Live at Leverkusener Jazztage (BHM, 2005) und Joe Zawinul – Brown Street (Intuition, 2006) zwei Grammys. 2015 erschien die grandiose Produktion Chano Domínguez – Soleando (Jazzline, 2015), die die Verbindung von Jazz und Flamenco zu neuen Höhen führte.
Nun also Homecoming. Einzige Vorgabe: Alle Kompositionen sollten aus eigener, seiner Feder sein. Die zweite Vorgabe kam von ihm selbst: Er wollte nur neue Stücke liefern, für diesen Anlass geschrieben und – müßig zu erwähnen: maßgeschneidert für die WDR Big Band. Und die Band dankt es ihm. Der Mitschnitt macht hörbar, dass ein beim Rundfunk angesiedeltes Orchester mit festangestellten Musikern und fest durchorganisierten Probezeiten das Projekt nicht mit professioneller Routine „abwickelt“, sondern inspiriert ist und sich einfach wohl fühlt. Keine Spur von jenen ermüdenden Thema/Solo/Solo/Solo/Thema-Abfolgen, Vince Mendoza ist ein Meister der organischen Form und der Bögen, ein Meister im Weiterspinnen musikalischer Gedanken. In einem Sechs- bis Neun-Minüter, der von ihm gestaltet wird, steckt viel drin, ohne dass es je überladen klingt - im Gegenteil: Die Musik atmet.
Auch schon im Fusion-Auftakt „Keep It Up“ – in einem unwiderstehlichen mittleren Tempo gehalten, mit latenter Spannung, Miles lässt grüßen (und taucht da nicht im Hintergrund ein tanzender Michael Jackson vor dem inneren, hörenden Auge auf?). In „Little Voice“ zeigt sich der Melancholiker Mendoza. Hier wird einmal mehr seine unverwechselbare Handschrift deutlich. Alles ist in stetem Fluss, man wähnt eine Landschaft langsam an sich vorbeiziehen. Zarte Farbtupfer, ein kühl-warmes Blau-Orange. Nonverbale Poesie. Aber er ist nicht nur der melancholische Ton-Poet. Wenn es eine zweite Seele gibt, die in seiner Brust schlägt, dann pocht sie ausgesprochen perkussiv - und dabei luftig-leicht. „Amazonas“ und „Daybreak“ verströmen lateinamerikanisches Flair. Dann ist Brasilien nicht weit. Doch brasilianische Musik weist zudem einen enormen harmonischen Reichtum aus, auch das macht sie für Jazzmusiker immer wieder so attraktiv. In seinen „Choros #3“ lässt Mendoza die Linien spiralförmig auf- und absteigen und durch die Harmonien tanzen. Und alle die, die immer wieder das Verschwinden der großen Melodiker im Jazz bedauern, dürften seine sanglichen Linien doppelt genießen. Auch und gerade im Titelstück, „Homecoming“.
Man nehme einen der weltweit führenden Komponisten, Arrangeure und Dirigenten des Jazz und bringe ihn mit einer der weltweit besten Big Bands zusammen. Dabei kann ja nur Exzellentes herauskommen, möchte man meinen. Dass dem in diesem Falle so ist, hat aber vor allem damit zu tun, dass diese musikalische Beziehung mittlerweile etwas Symbiotisches hat und weit mehr als die Summe ihrer einzelnen Teile und Qualitäten kreiert. One times one ist eben im Ergebnis one – und nicht two. So organisch die Kompositionen, so organisch die Einheit Vince Mendoza/WDR Big Band. Man ist gemeinsam at home. Eine Beziehung, die über Jahrzehnte gewachsen ist, geprägt von gegenseítigem Respekt und der Lust, etwas gemeinsam zu erarbeiten, geprägt von einem Mit- und Füreinander – von Werten, die in dieser unserer Welt schon einmal bessere Tage erlebt haben.
Karsten Mützelfeldt