Jazzline D 77077 (CD)
Millstream
Beschreibung
Als temperamentvoller Freigeist und überzeugter Nonkonformist hat sich der Saxophonist und Komponist Shawn Maxwell zu einer überraschenden Inspirationsquelle bekannt. „Jackie McLean und Cannonball Adderley sind zwei meiner großen Vorbilder. Das würde man vielleicht gar nicht vermuten, wenn man mich spielen hört. Aber ich habe sie transkribiert und wurde stark von ihnen inspiriert. Ich liebe Cannonball. Aber ich selber werde kein Cannonball werden.”
Maxwell, der häufig auf den besonderen Sound eines Fender Rhodes E-Pianos zurückgreift und seinem Faible, einprägsame Melodien mit Kanten und eigentümlichen Taktarten zu vermischen, viel Raum gibt, hat mit Millstream (Jazzline) - seinem bisher neunten Album als Leader - in der Tat etwas ganz spezielles abgeliefert. Getragen vom typischen 70er Jahre Sound des Rhodes, fokussieren sich Maxwell und seine Kollegen aus Chicago (Keyboarder Collin Clauson, Bassist Jeremiah Hunt und Schlagzeuger Phil Beale) auf den Long-Form Jazz und meiden ermüdende Head-Solo-Solo-Head Konventionen. „Es ist oft so, dass ich ein Stück Musik schreibe, ohne mich an die Regel von ii-v-i zu halten, oder an die Logik des: ‚Das eine führt notwendigerweise zum anderen‘. Wenn ich komponiere, denke ich mir: ‚Wie kann das funktionieren, auch wenn ich mich nicht an die Regeln halte?‘ Ich möchte, dass meine Musik auffällt, aber auch nicht so klingt, als hätte man einen Haufen Gabeln an die Wand geworfen, oder so ähnlich.“
Obwohl er in einigen der Nummern auf Millstream beinahe das „Gabeln-an-die-Wand“-Level erreicht (der Titel des Albums ist übrigens der Name jener Straße, in der er viele Jahre mit seiner Familie gelebt hat) und ganz bewusst in ein paar anderen Songs eine an Steve Coleman erinnernde Kantigkeit einfließen lässt, umfasst das Album auch trügerisch einfache und einprägsame Melodien. Dieses Mosaik unterschiedlicher Herangehensweisen an die Musik wird bereits im ansprechenden Eröffnungsstück „Ravage Eject“ deutlich, in dem wir Maxwells sanften Sopran über einem bezaubernden 6/8 Klangteppich schwebend, erleben.
Schon eine Spur dissonanter kommt das vor sich hin tuckernde Stück „Square Circle“ daher, das zwischen 3/4 und 5/4 Takt vor und zurück schaltet und in dem darüber hinaus über allem ein reinigender Alt-Wind bläst. „Welcome Anxiety” ist im Wesentlichen ein Ostinato der gesamten Band, befeuert von Clausons grungigen Rhodes-Tönen und Beales Drum Fills. In dieser Nummer heult das Altsaxophon des Leaders besonders durchdringend. „Das sind die Momente, in denen ich mich als Fan von Michael Brecker und David Sanborn oute,“ gesteht er. „Ich klinge natürlich nicht wirklich wie sie, aber ein bisschen in ihre Richtung bewege ich mich in meinem Solo doch.“
Maxwells Rebellentum setzt sich in „Elbow of Phyllis“ fort, einem freundlichen Stück, das zusätzliche Energie aus dem Push-and-Pull zwischen 4/4 und 7/8 Takt erhält. Der Komponist erklärt: „Ich bin ein Läufer. Den Chicago Marathon bin ich schon dreimal gelaufen und auch eine ganze Menge an Halbmarathons. Ich habe aber erst in meinen 30ern damit begonnen und vielleicht am Anfang nicht alles so gemacht, wie ich es hätte tun sollen. Vor allem, was das Dehnen und Vorbereiten angeht. Also begann ich eine Heilmasseurin namens Phyllis, die heute irgendwie auch meine inoffizielle Trainerin ist, aufzusuchen. Sie hat mich wieder auf Vordermann gebracht, aber nicht auf die sanfte Art. Meinen Rücken und meine Beine hat sie geradezu mit Schlägen bearbeitet. Beinahe hätte ich auf ihrem Massagetisch vor Schmerzen laut geschrien, während sie mich wieder zusammengesetzt hat. Später habe ich herausgefunden, dass sie dazu vor allem ihre Ellbogen verwendet. Dieser Song ist ihr gewidmet. Es ist der Sound eines Gefolterten, der wieder zurechtgebogen wird.“
Das Zwischenstück „We Salt Everything,” grenzt geradezu an Wahnsinn. In der Nummer braut der Leader durch Überschneiden von Alt- und Sopransaxophonen über einer Schlagzeug-Basismelodie, einen dissonanten Klangeintopf zusammen. Dagegen ist das anspruchsvolle „Sold Separately” ein rhythmisches Puzzle, das klingt als käme es aus der Tradition von Steve Coleman. Dazu Maxwell: „Gerade als ich soweit war, mich langsam meinem College-Abschluss zu nähern – ich kann kaum glauben, wie lange ich dafür gebraucht habe – habe ich zwei Saxophonisten entdeckt, die große Vorbilder von mir wurden: Kenny Garrett und Steve Coleman. In meinem letzten College-Jahr habe ich mich ganz auf Kenny fokussiert und im Jahr darauf war ich endlich bereit für Steve. Ich habe alles ausgegraben, was er jemals gemacht hat. Der Typ ist wirklich ein Genie.“ Das Rhodes baut hier, gemeinsam mit Beales energiegeladenem Drumming, ein großes Crescendo auf, in das der Leader mit einem kraftvollen Alt-Solo hineinstößt.
Ein Rhodes mit Echo-Klang erzeugt im stimmungsreichen „Napping in…Sunshine” einen Schwebeeffekt, der sich langsam zu einem ekstatischen Crescendo aufbaut. Maxwell wächst hier über sich hinaus und bearbeitet gleichzeitig (durch überschneiden) zwei Alt- und ein Sopransaxophon. Der Untertitel dieses Stücks, „A Tribute to Dogs and Lazy People Everywhere,” wurde von einer einfachen sommerlichen Freude inspiriert. „Ich hatte die Idee dazu, als ich eines Tages meiner Hündin beim Schlafen in der Sonne zugesehen und bemerkt habe, wie zufrieden sie war,“ erklärt er.
„Front Walk Over,” das schon auf dem 2014er Album 2014’s Alliance zu hören war, bietet straffe Alt-Trompeten Akkorde, die von Clausons Rhodes kontrapunktiert werden. Es beinhaltet auch einen ziemlich freien Austausch zwischen Maxwell und einem besonderen Gast, dem Trompeter Chad McCullough. „Chad ist einer meiner besten Freunde,” so der Leader. „Er war schon öfter mit mir und meinem Quintett unterwegs. Ich wollte diesmal lieber mit einem Quartett arbeiten, aber bei zwei Nummern musste aus meiner Sicht eine Trompete mit dabei sein. Also kam er zu uns und wir haben recht frei improvisiert. Wir haben über die vergangenen Jahre viel zusammen gearbeitet und wissen beide, wie der andere tickt. Er liefert, was ich von ihm erwarte.“
„Tails Wins,” ein weiteres kurzes Zwischenstück, ist ein kraftvolles Duett, bestehend aus Maxwells Sopran und Beales, an Militärmusik erinnernde, Trommel-Kadenzen. „No One Bossa“, ein brasilianisch angehauchtes Stücks, das erstmals auf Originals, dem 2005er Debutalbum des Leaders, zu hören war, ist hier in einer aktualisierte Version vertreten. Nach einem feurigen Start, in unison von Alt, Bass und Keyboard gespielt, massiert Clauson den Groove mit Wurlitzern, bevor er ein gefühlvolles und erstaunlich wendiges Solo abliefert. Maxwell beginnt sein Alt-Solo in Halftime, dann geht es wild im doppelten Tempo weiter; mühelos erreicht er dabei auch die oberen Register seines Horns. Beale legt sein polyrhythmisches Spiel souverän über das wildes Ostinato und setzt so ein Ausrufzeichen an diesen Bossa.
Das Album schließt etwas sarkastisch mit „Agent Orange,” Maxwells Päan auf die moderne Politik. Gekennzeichnet von einer dunklen Stimmung und unheilverkündenden Vorahnungen, könnte diese hymnische Nummer als Erkennungsmelodie für King Kong, Godzilla, oder eines anderen, zur totalen Vernichtung entschlossenen Monsters, dienen. Aber sie passt auch hier gut. „Ich habe allen Musikern aufgetragen, ihre Gefühle in das Stück hineinzulegen. Und das ist dabei herausgekommen. Es vermittelt eine perfekte Mischung aus Unheimlichkeit und sich ankündigendem Zorn, würde ich sagen.“
Bravo, Rebell! — Bill Milkowski
Bill Milkowski schreibt seit vielen Jahren für die Magazine Downbeat, Absolute Sound und Jazziz. Er ist auch der Autor von „JACO: The Extraordinary and Tragic Life of Jaco Pastorius,” sowie einer noch unveröffentlichten Biographie des bedeutenden Tenorsaxophonisten Michael Brecker.