COLORS & SHADOWS
D 77099
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Beschreibung
Angefangen hat alles eher mit einem Zufall: Irgendwann im Jahr 2017 landete wieder mal eine der zahllosen Promo-CDs auf meinem Schreibtisch. Bedeutendes Jazzlabel, auf dem Cover eine junge Frau mit einer Trompete. Andrea Motis? Nie gehört! Und so habe ich gleich eine Marketing-Masche gewittert. Sollte da etwa wieder mal eine junge, attraktive Musikerin einem schwächelnden Branchenriesen neue Zuhörerschichten erschließen? Kennt man aus der Klassikbranche zur Genüge, hat aber nicht immer optimal funktioniert. Trotz solcher Vorbehalte habe ich reingehört und war aufs Angenehmste überrascht. Eine selbstbewusst auftretende Künstlerin war da zu hören mit ausgeprägtem Latin-Feeling, ausdrucksvoller Gesangsstimme und ideenreichem Trompetenspiel. Dazu ganz offenkundig noch mit einem Talent fürs Stückeschreiben. Immerhin vier ihrer Eigenkompositionen hatte Andrea Stücken von Koryphäen wie Antonio Carlos Jobim, Cole Porter und Horace Silver an die Seite gestellt.
Zwei Jahre später kam Album Nummer 2, und die Entwicklung von Andrea Motis war nicht nur deutlich erkennbar, sondern geradezu rasant. Inzwischen wusste ich, dass die gerade 24-Jährige aus der schon legendären Jazz-Talentschmiede des Bassisten, Saxofonisten und gefeierten Pädagogen Joan Chamorro in Barcelona kommt und ihre ersten Erfahrungen in der dortigen Sant Andreu Jazz Band gemacht hat. Ihr Weg von der Schülerin zur ausgewachsenen, eigenständigen Künstlerin ist in zahlreichen Videos auf verschiedenen Social Media Plattformen hinlänglich dokumentiert. Schon als Teenager hat sie im Sextett neben dem großen Tenorsaxofonisten Scott Hamilton bestehen können.
Im Spätherbst 2019 haben wir uns in Berlin persönlich getroffen und eine Produktion mit der WDR Big Band verabredet. Für Andrea musikalisch also quasi die Rückkehr in eine Welt, in der sie groß geworden ist. Es war zu erwarten, dass ihre originellen Kompositionen durch den Big Band-Sound nochmal eine neue Dimension erreichen würden. Als Arrangeur schwebte mir der Bandleader und Trompeter Michael P. Mossman vor, dessen Affinität zu lateinamerikanischen Rhythmen mir durchaus geläufig war. Und siehe da, als ich ihn angefragt habe, kam eine begeisterte Zusage, denn – wie sich herausstellen sollte – kannten und schätzten sich die beiden bereits. Allen pandemischen Widrigkeiten zum Trotz haben wir das Ganze dann im Frühjahr 2021 in die Tat umgesetzt. Neben den Aufnahmen zum vorliegenden Album sind in den Fernsehstudios des Westdeutschen Rundfunks in Köln-Bocklemünd eine Handvoll Videos entstanden, von denen sich das eine oder andere zum regelrechten viralen Sommerhit entwickelt hat: „Brisa“ zum Beispiel, eine Uptempo-Nummer, die Michael Mossman mit einem fetzigen Scat-Intro beginnen lässt, und die – analog zum Original – in einem Kollektivgesang gipfelt, hier allerdings dem der WDR Big Band!
Für die inzwischen sehr zahlreichen Fans der jungen Spanierin, die jedes neu gepostete Video mit großem Hurra feiern, lohnt sich unbedingt ein Vergleich zwischen den Originalen und den hier eingespielten Arrangements. Je drei Stücke aus ihren beiden Combo-Alben hat Andrea ausgesucht, um sie von Michael neu „einkleiden“ zu lassen. Bei „Sombra de Lá“ zum Beispiel machen gleich die ersten Takte klar, dass es hier, im Vergleich zur Vorlage, in eine völlig neue musikalische Richtung geht. Und besagtes „Brisa“, das ursprünglich durch den Einsatz von Cavaquinho (eine Art Ukulele), Pandeiro, akustischen Gitarren und Geige eine sehr folkloristische Note hatte, wird hier zu einer orchestralen, aber trotzdem federleichten Gute-Laune-Nummer, die vom Ohr direkt in die (Tanz-)Beine geht.
Ein Titel wie das hier über zehnminütige „Sense pressa“ steht für die ruhigere, nachdenkliche Seite dieses Albums. „Colors and Shadows“ eben! Neben dem halben Dutzend Motis-Originale und dem „Senor Blues“ von Horace Silver haben es drei Stücke auf die Platte geschafft, die das Ganze nicht nur rund machen, sondern auch bisher „unerhört“ sind: „Iracema“, ein wunderbarer Samba des 1982 gestorbenen Adoniran Barbosa, „Motis Operandi“, eine von Michael Mossman eigens für unsere Produktion komponierte Nummer, die besonders die Fans der Jazztrompete begeistern wird, und schließlich „Tabacaria“. Der Komponist Joan Mar Sauqué ist unwesentlich jünger als Andrea Motis und entstammt ebenfalls dem Dunstkreis von Joan Chamorro in Barcelona. Der Titel hat einen besonders schönen Mittelteil, eine Art Melodram, rezitierter Text, nur begleitet vom Klavier. Als wir Mitte April 2021 bei Facebook ein Video aus der Probe zu „Tabacaria“ gepostet haben, wurde Andrea Motis eine besondere Ehre zuteil. Einige User verglichen sie mit einer der ganz Großen des Bossanova, mit der legendären – Astrud Gilberto!
Arnd Richter