WES MONTGOMERY
D 77078 (CD) D 78078 (LP)
Beschreibung
Glücklich sein mit sich selber
Nach Hamburg reiste er von London aus an im April 1965, und zwar wahrscheinlich in Begleitung des Saxophonisten Ronnie Scott – in dessen schon damals hoch angesehenem Club nämlich hatte der Gitarrist Wes Montgomery zuvor gerade gastiert, mit dem Pianisten Stan Tracey, Rick Laird am Bass und Schlagzeuger Ronnie Stephenson. Auch der saß vermutlich mit im Flugzeug nach Hamburg – denn Stephenson war in jener Ära der Leib-und-Magen-Trommler der NDR Bigband (die damals noch „Studioband“ hieß). Und wer weiß – vielleicht waren die Herren sogar zu viert unterwegs; denn aus England kam auch noch Scotts Saxophon-Kollege Ronnie Ross, im Gepäck fast alle Arrangements, die er geschrieben hatte für eine sehr besonderes Konzert; am 30. April ging der 39. NDR-Jazzworkshop über die Bühne im Hamburger Sendesaal, für Mikrophone und Kameras des NDR.
Wes Montgomery, der Gast aus den USA, galt auch dem Workshop-Leiter Hans Gertberg, 1958 im Auftrag des damaligen NDR-Musikchefs und Komponisten Rolf Liebermann Gründer dieser Konzertreihe, als eine Art Wunderkind; schon weil Montgomerys Karriere in einfachsten Verhältnissen begonnen und der Gitarrist selber noch zu Zeiten früher musikalischer Erfolge in einer Fabrik gearbeitet hatte. Obendrein erfand Montgomery eine ganz neue Technik des Gitarre-Spiels, die die Welt in Erstaunen setzte – zum einen nutzte er den Daumen der rechten Hand (was für „softere“, gedämpfte Sounds sorgte), zum anderen führte er viele Linien in der Improvisationen in Griff-Oktaven, ließ also den hellen, hohen und den dunkleren, tiefen Ton zugleich erklingen.
Für die Europa-Reise im Frühjahr 1965, extrem gut dokumentiert vor allem durch viele Live-Aufnahmen aus Club- und Radio-Konzerten, damals auf LP und später auf CD veröffentlicht, hatte sich Montgomery auf ein Experiment eingelassen: oft (etwa in San Remo, in Belgien oder für die BBC in London) mit dem eigenen Quartett zu spielen, also mit Harold Mabern am Klavier, Bassist Arthur Harper und Jimmy Lovelace am Schlagzeug, aber auch als Gast zur Verfügung zu stehen für europäische Kollegen. Wie für Stan Traceys Trio in Ronnie Scotts Londoner Club – in den Niederlanden waren dann Pianist Pim Jacobs, dessen Bruder Ruud Jacobs am Bass und Schlagzeuger Han Bennink Gastgeber für den Gitarristen, in Hilversum stieß noch der Trompeter und Flügelhornist Clark Terry hinzu.
Die Besetzung des Hamburger Konzertes war noch sehr viel herausfordernder; sie folgte der damaligen Strategie des NDR-Projekts – für eine Arbeitswoche Musiker (selten Musikerinnen) zu versammeln, die sonst nicht oder nur selten miteinander spielen, und die Ergebnisse der Workshop-Proben danach im Radio vorzustellen. Nicht ohne Grund wies Workshop-Leiter Gertberg zur Konzert-Eröffnung vor begeistertem Publikum darauf hin, dass der berühmte Gast zunächst einige Hemmschwellen überwinden musste, um sich völlig einzulassen auf diese Gruppe.
Denn hier saßen ihm gleich vier Saxophonisten gegenüber, alle von großer solistischer Klasse: Johnny Griffin vorneweg (ein „American in Europe“, mit dem Montgomery schon in Paris gespielt hatte), Hans Koller aus Wien (eine der kraftvollsten europäischen Jazz-Stimmen weit über die 60er Jahre hinaus und Mitbegründer der ziemlich einzigartigen Hamburger Konzertreihe) und obendrein die beiden Londoner Ronnies, Scott und Ross, der Bariton-Saxophon spielte.
Und damit nicht genug – neben Schlagzeuger Stephenson und Bassist Michel Gaudry saß am Klavier einer der schon damals und bis heute wichtigsten europäischen Erneuerer des Jazz: Martial Solal. Dessen Soli im Konzert (und auf der CD hier vor allem im „Opening 2“ vom Beginn des zweiten Konzert-Sets) markieren auch schon Mitte der 60er Jahre den sich immer stärker entwickelnden Stil-Willen europäischer Musiker gegenüber den Meistern aus Amerika. Dafür steht auch der grandios arrangierte Bläsersatz – all das dürfte für den Gast aus den USA eine extreme Herausforderung gewesen sein.
Und er besteht sie mit Bravour und Eleganz.
Montgomery reagiert in jeder der eigenen Kompositionen (wie in denen von Ross, Solal und Griffin) mit kluger Einfühlsamkeit auf den jeweils sehr speziellen Geist, der sich auch über die arrangierten Finessen hinaus als „Soul“ empfinden lässt. Montgomery gelingt ein doppeltes Kunststück – er führt (immerhin ist er der Stargast des Abends!), fügt sich aber auch gleich wieder ein. Die auf diese Weise entstehenden Dialoge zwischen dem feinen, filigranen Gitarren-Sound und der massiv-kollektiven Energie der Saxophonisten sprengen alle Rahmen der Konvention - wo und wann sonst hätten jemals der Einzelne und die Gruppe derart effektiv miteinander kommuniziert?
Im Frühjahr 1965 blieben dem einzigartigen Gitarristen nur noch drei Jahre Leben; 1968 schon ist Wes Montgomery gestorben, nur 45 Jahre alt: Herzinfarkt. Der Erfolg des Autodidakten hatte in diesen verbleibenden drei Jahren noch enorm zugenommen – aber er wurde damit nicht glücklich. In den Händen kommerziell orientierter Produzenten verkam Montgomerys Musik zur „Marke“ im Markt der weich und immer weicher gespülter Musik zum Nebenbei-Hören: „easy listening“, made by Wes Montgomery. Der Gitarrist hat das wohl letztlich als Verrat an sich selber empfunden; zitiert wird er mit dem unendlich traurigen Satz: „Ich bin deprimiert über mein Spiel.“
Die europäischen Konzerte, und speziell die glücklichen Stunden beim NDR-Jazzworkshop am 30. April 1965 in Hamburg, markieren vielleicht einige der schönsten Momente, die auch Wes Montgomery selber in Erinnerung behalten hat - von sich selber und der großen Kunst, die er beherrschte.
Michael Laages