Jazzline N 77067 (CD)
ETERNAL VOICES
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Beschreibung
Seit nunmehr 50 Jahren treffen sich Lieb und ich regelmäßig um zu musizieren und aufzunehmen. Mit diesem Album feiern wir dieses Jubiläum. Das waren unglaubliche Jahre und glücklicherweise verstehen wir uns heute sogar noch besser als jemals zuvor. Die Aufnahme von Eternal Voices ist daher für uns etwas ganz besonderes. Wir haben uns dazu entschlossen, diesmal relativ kurze aber sehr starke Meisterstücke aus der Welt der klassischen Musik – von Bach bis Schönberg – als Basis für unsere Improvisationen zu verwenden. Natürlich haben wir beide diese Art von Musik früher schon einmal gespielt, aber nun haben wir zum ersten Mal ein ganzes Repertoire großer Kompositionen von Meistern der Klassik zusammengestellt.
Ich will lieber über den Charakter der Aufnahme und die Vorbereitungen dazu sprechen, als jedes Stück im Detail zu analysieren. Ich habe klassische Musik schon immer studiert und auch geliebt. Ab meinem fünften Geburtstag habe ich 13 Jahre lang beim großen italienischen Meisterpädagogen James Palmieri gelernt. Bevor ich schließlich das Jazz-Piano für mich entdeckt habe, bin ich zwar schon immer ein guter Schüler gewesen, aber irgendetwas hat mir dabei immer gefehlt. Mein junges, unwissendes Ich dachte, dass ich vielleicht eines Tages irgendwie in der Lage sein würde, die kurzen klassischen Stücke, die ich oft gespielt habe und von denen einige auch auf diesem Album zu finden sind, zu verbessern. Wie hätte ich auch wissen können, dass ich nun - viele Jahre und tausende Stunden an Vorbereitungszeit später - in der Lage sein würde, dieselben Stücke als Sprungbrett für meine eigenen Improvisationen zu verwenden!
Wenn wir von Jazz-Improvisation auf dem von uns angestrebten Niveau sprechen, dann geht es vor allem um gegenseitiges Vertrauen, ein unterbewusstes Zusammengehörigkeitsgefühl und das Unbekannte. Wir stehen da manchmal sprichwörtlich ganz nahe am Abgrund. In welche Richtung wenden wir uns in dem Moment?? Es ist keine Zeit, um etwas zu proben oder einzustudieren; manchmal sind wir nur eine Haaresbreite davon entfernt, richtigen Kitsch zu fabrizieren!! Das trifft vor allem auf die diatonisch eingeschränkte, aber gehobene musikalische Sprache von Bach, Mozart und Beethoven zu. Wie bei allen großen Meisterwerken gehen das Schwierigkeitsniveau des Stücks und die daraus resultierende persönliche Zufriedenheit des Musikers Hand in Hand. Wenn man heute eine Aufnahme macht, bleibt sie im Informationsuniversum auf Dauer erhalten; das erzeugt natürlich eine gewisse zusätzliche Spannung, deren wir uns wohl bewusst sind. Wir fürchten uns nicht davor, bemühen uns aber, die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Die große Herausforderung ist es, einerseits 400 Jahre alte Komponisten zu ehren und andererseits etwas für die heutige Zeit relevantes – und im besten Fall für die Ewigkeit gemachtes - zu erschaffen.
Vielleicht ist es angebracht, auch ein paar Worte zu der Bartok Aufnahme dieses Projekts zu sagen, die das Ergebnis eines wirklich intensiven Prozesses ist. Es geht dabei auch um die Rückbesinnung auf unsere Wurzeln! Von 1968 bis 1972 studierte ich Musiktheorie und Komposition an der Manhattan School of Music bei Ludmela Ulehla. Eines der großartigsten Werke, denen wir uns in dieser Zeit angenommen haben, waren die Gruppe der sechs Streichquartette von Bartok. Ich habe immer noch die Notenblätter von damals, mit deren Hilfe ich dieses geradezu ikonische Werk der zeitgenössischen Musik zu begreifen versucht habe. Dave und ich haben Stunden damit zugebracht diese Noten und die Musik zu analysieren. Es war Daves hervorragende Idee, für diese Aufnahme nur die langsamen Sätze daraus zu arrangieren.
Ich verdanke vieles meiner Ausdrucksweise am modernen Jazz-Piano den Kompositionen Bartoks. Man betrachte nur die unglaublich intervallischen Ideen, die er auf außergewöhnliche Weise entwickelt hat; nicht nur in den Streichquartetten, sondern auch in seiner Musik für Streicher, Schlagzeug und Celesta, dem Konzert für Orchester und den 14 Bagatellen für Solo-Piano. Auf diesen unglaublichen Reichtum an musikalischen Ideen konnten Dave und ich zurückgreifen. Es war wie ein riesiges Reservoir, aus dem wir wieder und wieder geschöpft haben. Besonders die langsamen Sätze der sechs Streichquartette waren für unsere Entwicklung als junge Jazzimprovisatoren besonders wichtig. Die Kraft von Bartoks Musik hat uns tief bewegt und unsere Phantasie inspiriert. Es besteht auch eine Verbindung zwischen Bartok und Coltrane, was uns wiederum mit den wichtigsten Wurzeln des chromatischen Universums verbindet. Dieses Universum und die umfassende Humanität der Musik von Coltrane und Bartoks, umgaben und unterstützen unsere Reise durch die Interpretationen, die wir hier versammelt haben.
Beim Aufnehmen der zeitlich jüngeren Stücke, etwa denen von Scriabin, Schönberg und natürlich Bartok, haben wir eine faszinierende Entdeckung gemacht. Die harmonische und melodische Sprache, auf die Dave und ich bei den Improvisationen zu diesen Stücken zurückgegriffen haben, war in Wirklichkeit aus der Essenz der Melodien dieser Meister selbst hergeleitet. Wir hatten daher bei den Aufnahmen das Gefühl, an die Quelle dessen zurückzukehren, was über die Jahre zu unserer ganz persönlichen musikalischen Sprache geworden ist. Wir haben viel Kraft und positive Energie aus dieser Rückbesinnung ziehen können. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass unsere Art des Improvisierens gewissermaßen direkt mit diesen ikonischen Stücken verbunden ist. Kombiniert man dies alles mit den unterschiedlichen Stilen von Bebop und den impressionistischen Stimmen von Faure, Debussy und Ravel, dann kann man zurecht sagen, dass wir aus einer wahrlich tiefen Quelle geschöpft haben. Zu diesem überreichen Ausgangsmaterial muss man auch noch die immer präsenten Bezüge zum John Coltrane Quartett hinzufügen (vor allem die unglaublichen modalen Chromatismen von McCoy Tyner) und schon hatten wir eine große, farbenreiche Palette, die wir für unsere Improvisationen heranziehen konnten.
Die Geschichte der Musik ist - grob gesprochen - die Entwicklung von Bach zu Stockhausen. Das bedeutet natürlich nicht, dass es nicht davor, während und auch danach viele andere Komponisten gegeben hätte, die wir lieben und wertschätzen. Aber doch verdeutlichen Bach und Stockhausen die Parameter und die historische Breite mit denen man sich als Musiker auseinandersetzen muss, wenn man sich dem klassischen Repertoire widmet.
Auch die beiden Melodien, die Dave und ich für Ernst Bucher und Walter Quintus geschrieben haben, sind eigentlich an eine sehr alte Form angelehnt, die der Passacaglia. Deren Struktur basiert auf einer sich widerholenden, sich drehenden und ansteigenden Figur der Basslinie mit einfachen Akkorden und ist über weite Strecken harmonisiert. Akzentuiert wird das Ganze durch eine sehnsuchtsvoll schmachtende Melodie und Andeutungen eines Blues-Gefühls. Ernst und Walter waren enge Freunde, die uns leider in den letzten Jahren für immer verlassen haben. Auf diesem Album erinnern wir auch an sie.
Wir haben diese Aufnahmen - wie schon so viele andere für unsere Duo-Projekte - an einem ganz besonderen Ort im Wald von Zerkall nahe Nideggen in Deutschland gemacht, bei unserem guten alten Freund und Förderer Kurt Renker. In einem alten, als Aufnahmestudio eingerichteten Haus, in dem auch ein unglaublich altes Bechstein Piano steht und unterstützt von Florian, einem ziemlich jungen und genialen Aufnahmetechniker. Die Atmosphäre an diesem Ort ist intim und entspannt, aber gleichzeitig auch extrem fokussiert und kreativ. In dieser Umgebung können wir ohne Störungen an unseren Duo-Projekten arbeiten….es gibt keine zeitlichen Vorgaben, keine anderen Musiker im Studio, keine Ablenkungen. Wir können uns wirklich glücklich schätzen, dass wir Kurt und Florian haben. Die zweite kritische Komponente, die maßgeblich zum Erfolg unserer Projekte beiträgt, ist unser Notenwender Egon. Es ist einfach ein Traum, mit welcher Sicherheit und großem Können er beim Blättern immer eine PERFEKTE Abstimmung zwischen Klavier und Saxophon herstellt. Das ist in Duo-Situationen, wo die Intonation ein kritischer Faktor ist, extrem wichtig. Egon während der Aufnahmen vor Ort zu haben, ist eine wunderbare Versicherung gegen Intonationsprobleme. Daves Einsatz ist großartig, also können wir mit dem Fluss der Musik mitgehen und müssen nicht wertvolle kreative Energie und Zeit auf irgendwelche ausgefeilten Mechanismen verwenden.
Dave ist ein idealer Partner. Ich würde seine Art Musik zu machen als entspannte Intensität beschreiben. Wir lieben diese intensive Konzentration auf die Herausforderungen der gemeinschaftlichen Kreativität. Wir proben nicht viel, aber nach einem Leben, in dem wir so oft gemeinsam gespielt, nachgedacht und aufgenommen haben, kommen wir recht rasch zum Kern der jeweiligen Musik.
Lassen sie mich an dieser Stelle Dave Liebman danken, meinem besten Freund seit fünfzig Jahren. Lieb, wie er auf der ganzen Welt genannt wird, hat viel dazu beigetragen unserer Musik Bedeutung und langen Bestand zu ermöglichen. Er steckt nach all den Jahren immer noch voller Überraschungen, eine Eigenschaft, die auch die Quintessenz jener Musik ist, die wir Jazz nennen und die wir in all ihren wunderbar diversen Formen und Farben genießen.
Dieser überraschende, unvermittelte Klang verzaubert uns, haucht Leben und Licht in die Welt der Musik und begeistert selbst darüber hinaus die Menschen.
Written by Richie Beirach
Edited by Dave Liebman