Jazzline N 77046 (2CD) / N 78046 (2LP)
ALSO AVAILABLE IN VINYL 180g DIRECT METAL MASTERING
Beschreibung
Vom „Immer mehr“ des Jazz
Eins der faszinierendsten Kapitel der Jazz-Geschichte haben die „Americans in Europe“ geschrieben – Jazz-Meisterinnen und -Meister aus dem Mutterland dieser Musik, die sich aus unterschiedlichsten Gründen nicht wohl fühlen konnten im Vaterland USA; meistens, weil es nicht genug Arbeitsmöglichkeiten gab für sie und noch weniger Anerkennung. Der latente Rassismus daheim kam hinzu, und einige protestierten flüchtend auch gegen die Selbstüberhebung der Weltpolizei-Nation, die immer wieder kriegerische Dimensionen annahm. Schon in den 50er Jahren hatte sich zudem ja auch die eine oder andere Bigband in die Einzelteile aufgelöst bei Konzertreisen in die „Alte Welt“ – und so wurden Paris und London, Stockholm oder Kopenhagen, in selteneren Fällen auch Berlin, München oder Frankfurt zur neuen Heimat für prominente Jazz-Stars.
Johnny Griffin, 1928 in Chicago geboren, ist einer von ihnen gewesen. Als er am 8. August 1975 in „Onkel Pö’s Carnegie Hall“ am Lehmweg in Hamburg-Eppendorf einem sehr illustren Quintett präsidiert, ist er gerade für eine Weile in den Niederlanden zu Hause. Aber auch London, Paris und Stockholm waren Residenzen für ihn; speziell von Paris aus hat er in der Bigband von Kenny Clarke und Francy Boland Meilenstein-Arbeit geleistet. Auch bei Peter Herbolzheimers Rhythm Combination & Brass setzt er starke Akzente, und im Jahr des Hamburg-Konzertes ist er zu Gast in der Band von Klaus Doldinger. Nach kurzer Rückkehr in die USA Ende der 70er Jahre lebte John Arnold Griffin III dann bis zum Tode mit 80 Jahren 2008 fast ein Vierteljahrhundert in dörflicher Umgebung des französischen Departments Vienne. Bis ins hohe Alter ging er von dort aus auf Konzertreisen.
Die Band vom Sommer 1975 hat es personell in sich: Art Taylor feuerwerkt am Schlagzeug, mit Niels-Henning Örsted-Pedersen aus Kopenhagen ist Europas für lange Zeit wichtigste Bass-Stimme mit im Spiel, aus Spanien kommt der Pianist Tete Montoliu hinzu (der es aber leider aus technischen Gründen ziemlich schwer hat gegenüber der Dauer-Power der Kollegen), und neben Griffin agiert auch noch Eddie Davis, dessen Spitzname „Lockjaw“ ahnen lässt, wie lange Mister Davis das Saxophon-Mundstück in Betrieb halten kann: „Lockjaw“ ist (physiologisch betrachtet) eine Kiefersperre. Auch Griffin ist ja damit begabt – wenn er mit einem Solo beginnt, weiß niemand, wann (und ob) er jemals ein Ende finden wird. Johnny Griffin war und blieb der ungekrönte König der „neverending stories“; und ungezählt waren die Zitate, die er unterzubringen wusste in den ungebändigten Monologen am Saxophon. Vielleicht hat er manchmal ganz allein so etwas wie die Weltgeschichte des Jazz erzählen wollen. In jedem Fall haben viele sie gerade durch ihn, diesen körperlich kleinen Mann mit der schier riesenhaften Energie, erst richtig kennen gelernt.
Noch als Teenager hatte Griffin in Rhythm’n’Blues-Bands gespielt und Freunde fürs Leben gefunden, etwa Percy Heath und Philly Joe Jones; Sängerinnen wie Dinah Washington, Ella Fitzgerald oder Betty Carter konnte er schon begleiten. Da war er noch am Altsaxophon tätig und schätzte Johnny Hodges, konzentrierte sich auch noch auf Balladen wie Ben Webster – in Lionel Hamptons Orchester aber wechselte er 1946 zum Tenor-Saxophon. Und sehr bald packte dann auch den jungen Mister Griffin das Feuer der Bebop-Revolte, die so vieles veränderte im Jazz.
Die ersten Aufnahmen unter eigenem Namen erschienen 1956, und vier Jahre später gab es schon mal eine Band mit dem „Lockjaw“-Partner Davis; die sogar ziemlich populär und erfolgreich war. Insofern ist der Besuch in Hamburg fünfzehn Jahre später auch ein kleines Revival. Und wenn Davis den zweiten Teil des NDR-Mitschnitts mit dem Meister-Standard „I can’t started“ eröffnet, gefolgt von „Stompin‘ at the Savoy“ mit Griffin und Davis im Wechsel, dann wird sehr deutlich, was die beiden mit- und aneinander hatten: Partnerschaft im produktiven Gegenüber und Gegeneinander der Stimmen. Süffig und mit viel Luft füllt Davis den Raum mit Klang, knackig und kernig setzt Griffin das eigene Profil dagegen. Zusammen sind sie kaum zu schlagen.
Überdies ist das „Pö“-Konzert ein sehr typischer Griffin-Abend. „Little Giant“ (wie ihn die Gemeinde nannte), der kleine Riese war ja im Zentrum der langen Karriere nie sonderlich um Struktur bemüht – die Kraft war sein Element, das überbordende Erzählen. Mit einem Mini-Motiv (wie „Funky Fluke“ zum Finale) konnte er umstandslos eine ganze Platten-Seite füllen, er hatte ja immer noch etwas mehr zu erzählen. Das war eine Art Motto für diese scheinbar unendliche Geschichte: immer mehr zu geben, immer mehr zu finden. Alles, was Johnny Griffin im Erzählen fand, hat er gern geteilt mit uns.
Auch darum ist das Publikum an diesem 8. August des Jahres im Hamburger „Onkel Pö“ wieder mal richtig enthusiastisch dabei. Und das Jazz-Herz schlägt sehr kräftig.
Michael Laages