Jazzline N 77062 (2CD) / N 77062 (2LP)
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Beschreibung
Lieder für den Vater
Als er selber 80 Jahre alt wird, erinnert der Schlagzeuger Louis Hayes noch einmal, und aus übervollem Herzen, an jenen Meister des Jazz, dem er selber so vieles verdankt: an den Pianisten und Komponisten, den Stil-Bildner vor allem und Band-Leader Horace Silver. Der ist da schon seit drei Jahren tot und verbrachte die letzten Jahre zuvor in schwerer Krankheit – etwa sechs Jahrzehnte zuvor aber hatte dieser Horace Silver, damals selber gerade erst Art Blakeys „Jazz Messengers“-Schule entwachsen und mit eigener Band am Start, einen noch nicht ganz 20jährigen Jungen aus Detroit ins Ensemble geholt, der die ersten Schritte an der Seite des Saxophonisten Yusef Lateef unternommen hatte. Für drei Jahre übernimmt Louis Sedell Hayes den Schlagzeug-Platz in Silvers Quintett; und wenn es ihn danach auch bald schon weiter treibt, zunächst in die Band um Cannonball Adderley und danach zum Trio mit Oscar Peterson, so hat gerade das Engagement bei Horace Silver doch genug Spuren hinterlassen für ein langes Jazz-Leben.
Noch im März 1976 ist das zu spüren im Konzert vom Quintett, das Louis Hayes leitet in „Onkel Pö’s Carnegie Hall“ in Hamburg-Eppendorf; und zwar auch ohne dass irgendeine Silver-Komposition auf der Titelliste stünde. Silver ist anwesend: denn auch Woody Shaw ist durch dessen Akademie gegangen. Der Trompeter wird 32 im Jahr dieser Aufnahme und steht schon mitten drin in einer Karriere, die ihn zu einer wichtigsten (und viel zu früh verstummten!) Stimmen im zeitgenössischen Jazz werden lässt. Shaw stirbt schon 1989, nicht mal 45 Jahre alt – erst ist er fast blind, er stürzt in diesem Zustand vor eine U-Bahn und verliert einen Arm; dann gibt der Körper auf. Erste Aufnahmen mit Shaws eigenem Ensemble gehören bereits zu den Highlights der „Onkel Pö“-Reihe, weitere werden bald folgen. Shaw steht beispielhaft auf der Schwelle zwischen Tradition auf der einen Seite und auf der anderen Um-, Auf- oder Ausbruch, sehr frei kann er spielen und doch ganz eng bei den Meistern bleiben, die ihrerseits ihn geprägt haben. Er ist bis heute einer der ganz großen Ahnen und wirft sehr lange Schatten, wenn junge Musikerinnen und Musiker mit der Trompete immer aufs Neue diesen Weg zwischen die Welten beschreiten.
Und wer spielt neben Shaw an diesem Abend im „Onkel Pö“ unter freundschaftlicher Leitung von Louis Hayes? Junior Cook, zehn Jahre älter als Shaw - als Saxophonist hat er die wichtigste Prägung (oder den edlen Schliff) ebenfalls in enger Partnerschaft mit dem so überaus besonderen Jazz-Stilisten Horace Silver erhalten. Cook blieb bis Mitte der 60er Jahre in dessen Band, war zuvor schon bei Dizzy Gillespie gewesen und zog nach der Silver-Zeit weiter zu Blue Mitchell und ungezählten anderen; Mitte der 70er Jahre ist er zur Stelle, als die einstigen Silver-Partner Hayes und Shaw ein neues Quintett formieren wollen. In dieser Besetzung gehen sie auch ins Studio und spielen „Ichi-ban“ ein – der Hayes-Titel mit den eingebauten japanischen Motiven ist auch hier in der „Onkel Pö“-Aufnahme Teil des Konzertprogramms. Der Bassist Stafford James, Jahrgang 1946 und beim Auftritt im „Onkel Pö“ der Benjamin im Quintett, wird später immer wieder mit Woody Shaw unterwegs sein, auch beim „Onkel Pö“-Gastspiel im Jahr 1982; und wie der Pianist Ronnie Matthews war auch James durch die wichtigsten aller praktischen Jazz-Akademien gegangen - im „Jazz Messengers“-Ensemble um Art Blakey. Matthews starb schon 2008, nur 53 Jahre alt, Cook nach regelmäßiger Lehrtätigkeit und späten Arbeiten mit eigenen Bands und der Bigband um McCoy Tyner schon 1992, mit 58.
Dass einer wie Louis Hayes das achte Lebensjahrzehnt vollendet hat, und das bei guter Gesundheit und in haltbarer Schaffenskraft (wie die Hommage an Horace Silver 2017 belegt hat), ist ja überhaupt nicht selbstverständlich. Den Veteran aus Detroit zeichnen allerdings ein paar Eigenschaften aus, die dieser Überlebensenergie unbedingt zuträglich sind. Zum Beispiel versteht er es überaus gut, hauszuhalten mit den eigenen Reserven; Louis Hayes ist überhaupt kein Showman hinter Trommeln und Becken, er prunkt und protzt nicht eine Sekunde lang – weiß andererseits aber überaus genau, wann es tatsächlich um ihn geht, um die Sounds und Klänge, mit denen er, der Schlagzeuger, das akustische Gesamtbild des Ensemble nicht nur bereichern, sondern sogar prägen kann. Und er kann warten, auch richtig lange – wir befinden uns mit diesen „Onkel Pö“-Aufnahmen immerhin in jener entspannten Epoche, wo sich die Solisten sehr gern sehr viel Zeit nahmen und einzelne Stücke gern mal eine komplette Konzert-Halbzeit füllten.
Auch darum ist dies ja eine Doppel-CD. Oft hat womöglich erst Harriett, die legendäre Herrscherin über Tresen und Zapfhahn im alten „Onkel Pö“, mitentschieden über das Finale eines Konzertes, bei dem (wie bei diesem hier) die musikalischen Geister eher auf „Unendlich“ gestellt waren – indem sie die „letzte Runde“ ansagte. Aber viele hätten einem so gut eingespielten und abgestimmten Quintett gern auch noch weiter zugehört den Rest der Nacht über. Sicher hätten sie auch noch Horace Silver geehrt – mit dem Lied für den Vater, Silvers „Song for my father“. Aber Silver war ja auch schon vorher mit dabei: im Geiste.
Michael Laages