Jazzline N 77047 (2CD) / N 78047 (2LP)
ALSO AVAILABLE IN VINYL 180g DIRECT METAL MASTERING
Beschreibung
Geister beschwören
Die Stimme dieser Sängerin klingt wie aus anderen Welten herüber. Vielleicht aus irgendeinem Urwald … mit dem Aufnahmegerät pirscht Esther Phillips darin umher und sammelt Sounds. Und jeden, den sie findet, probiert sie auch selber aus – das Knurren und Schnurren von großen und kleinen Wildkatzen, das Sirren und Zirpen und Kreischen vieler Vögel hoch oben in den Wipfeln, das dunkel pulsierende Atmen des Raubtiers hinter der nächsten Wegbiegung. Nun ist aber dieser Urwald eine große Stadt, New York zum Beispiel – und da kann sich diese ganz spektakulär außergewöhnliche Sängerin guten Gewissens als „Native New Yorker“, als geborene New Yorkerin präsentieren – am 11. November 1978 beim ziemlich magischen Konzert in „Onkel Pö’s Carnegie Hall“ in Hamburg, dem legendären Szene-Lokal, das sich an diesem Abend einmal mehr in einen Hexenkessel der Emotionen verwandelt. Das ist fast immer so, wenn der in jenen Jahren prallvolle Konzertplan die erdigen Ur-Gründe und Abgründe des Blues beschwört.
Die Sache mit New York stimmt übrigens nur bedingt – Esther Mae Jones kam am Vorweihnachtstag des Jahres 1935 im texanischen Galveston zur Welt. Von dort trieb es das Kind bald weiter nach Houston, dann noch weiter nach Los Angeles. Da ist das Mädchen 13 Jahre alt und verblüfft das Publikum in einer Nachwuchs-Show: als „Little Esther“. Der Label-Chef Herman Lubinsky (so schreibt J.C. Marion über die frühen Jahre der Sängerin, die sich später Esther Phillips nennt) bringt das Sternchen nach der ersten Begegnung mit dem bewährten Blues-Meister Johnny Otis zusammen, sie wird Teil in dessen neuem Vokal-Quartett „The Four Robins“. Darin ist „Little Esther“ von Beginn an ein voller Erfolg; und der hält auch in weiteren Band-Konstellationen an.
Mehr noch – „Little Esther“, genauer: ihre Mutter, die für alle Vertragsfragen des noch lange nicht volljährigen Mädchens verantwortlich ist, verstrickt sich in Rechtsstreitigkeiten um die Karriere des Kindes. Schon kämpfen mehrere Plattenfirmen um das Talent, das nun ständig auf Reisen ist mit den Stars der Epoche und mittendrin steht im starken Strom des schwarzen „Rhythm’n’Blues“. Sie wird gerühmt in einer Reihe mit Kolleginnen wie Ruth Brown und Dinah Washington – und speziell das ist eine große Ehre, denn wenn „Little Esther“ überhaupt ein Vorbild hat, dann Dinah Washington. Auch mit kraftvollen Stimmen des Jazz kommt sie bald in Kontakt: mit dem texanischen Saxophonisten Arnett Cobb etwa, mit dessen Instrumental-Kollegen Jimmy Forrest und Sonny Stitt.
Zehn Jahre hat der Erfolg dann angehalten, das Mädchen ist jetzt eine Profi-Lady geworden; und die hat nicht nur mit Jazz-Musikern Bekanntschaft gemacht, sondern fatalerweise auch mit der ewigen Geißel der Szene: mit den Drogen. Zugleich hat auch der „Rhythm’n’Blues“-Strom an Stärke verloren; was Esther Phillips aufnimmt, verkauft sich nicht mehr so gut. Immer wieder verschwindet sie für eine Weile von der Szene, und mehrmals in den zwei Jahrzehnten muss sie sich neu erfinden – im Dschungel der Großstadt, in Business und Drogensumpf. Gnade ist da selten. Immerhin hat sich die Sängerin Anfang der 60er Jahre (und angeblich auf Grund eines Werbespots) den neuen Familiennamen „Phillips“ zugelegt; sie tritt in England auch in einer BBC-Show mit den „Beatles“ auf und wird sehr sporadisch immer mal wieder zu Jazz-Festivals eingeladen: 1966 nach Newport, 1970 nach Monterey. Aber ganz im Ernst und bei Lichte betrachtet, hat die Musikwelt den frühen Ruhm von Esther Phillips fast vergessen.
Im Disco-Sound wird sie wieder wahrgenommen: mit „What a difference a day makes“, einem Song, den ehedem die von ihr so sehr verehrte Dinah Washington prominent im Repertoire hatte und den sie natürlich auch beim Konzert im Hamburger „Onkel Pö“ anstimmt kurz vor Schluss. Die Zeit der Erinnerungen hat da längst begonnen – Esther Phillips gelangt noch einmal zurück in die Welt von Soul und Blues und Pop. Und das Jazz-Publikum bemerkt sicher am deutlichsten, wie intensiv da alles mit allem verbunden und verschlungen ist in der Kraft dieser Stimme, der nichts unmöglich zu sein scheint. Esther Phillips hat im Dschungel der Großstadt überlebt. Das vom NDR aufgezeichnete Konzert im „Onkel Pö“, mit kraftvollen Begleitern in der Band und sehr enthusiastischem Publikum, dokumentiert auf gleich zwei CD’s, beweist sehr nachdrücklich, dass sie die Geister noch immer beschwören konnte.
Noch einmal gelingt die große Verzauberung in diesem Hamburger November des Jahres 1978. Esther Phillips wird wenige Wochen später erst 43 Jahre alt. Aber die Zeit läuft ab – die 50 hat die Sängerin schon nicht mehr erreicht. Am 7. August 1984 ist sie gestorben.
Aber wer weiß: Vielleicht ist sie ja immer „Little Esther“ geblieben.
Michael Laages