Jazzline D 77071 (CD)
Beschreibung
Echos aus Zukunft und Geschichte
Neulich haben zwei prägende Geister des modernen Jazz ein wirklich erstaunliches Jubiläum feiern können – David Liebman, der New Yorker Saxophonist vom Jahrgang 1946, und Richie Beirach, ein Jahr jünger und einer der kreativsten Köpfe des modernen Jazz-Klaviers, der wie Liebman aus New York kam und im späteren Leben sehr lange in Köln zu Hause war, hatten einander vor tatsächlich 50 Jahren, 1969 also, kennen und schätzen gelernt für die gemeinsame Arbeit. Und wie sich das gehört, haben zwei Meister von diesem Kaliber das kleine Fest mit einer großen CD gefeiert; gleich im Doppelpack (und ebenfalls wie diese CD hier bei JAZZLINE erschienen) nahmen sich die beiden der europäischen Klassiker aus der Konzertmusik an, von Johann Sebastian Bach bis zu Bela Bartok, und erzählten von und mit ihnen Geschichten voller Echos und Schatten – denn wie legt sich die Musik aus Jahrhunderten musikalischer Tradition über die zeitgenössische Sprache des Jazz, wie eignet sich umgekehrt die Methodik des Jazz die kompositorische Stringenz der älteren wie der neueren Meister aus dem klassischen Konzertsaal an? Ein weites Feld ist das, worauf Beirach und Liebman forschen …
Nur leicht zeitversetzt folgt dieser Begegnung der beiden Jubilare die Erinnerung an längst vergangene Zeiten, die sich aber –das beweist die neue neben dieser, der „alten“ Aufnahme- auch als Kontinuum erwiesen haben. 1975 begründete der NDR die hauseigene Festival-Tradition, um dem „New Jazz“ (wie das damals hieß) neue Spielstätten zu verschaffen in der Hansestadt, die ja immer ein wenig litt unter der Allgegenwart der aller Ehren werten Swing- und Dixieland-Traditionalisten, mit denen Jazz zwar meist recht gemütlich sein konnte, aber nie innovativ. Die goldenen Zeiten des Bemühens um den „neuen Sound“ des Jazz waren schon eine Zeitlang vorbei an der Elbe seit der Schließung vom legendären „Jazzhouse“ der 60er Jahre – „New Jazz“ im Titel eines Festivals durfte also durchaus als mutig gelten. Den anstrengenden Job bürdete sich Wolfgang Kunert auf, der eigentlich für Programm und Struktur der NDR Bigband zuständig war, die damals noch „Studioband“ hieß und gelegentlich noch als Tanzorchester sowie im Hafenkonzert tätig wurde – dieses Orchester traute sich in der Hamburger „Fabrik“ endlich auch vor ein Jazz-Publikum, und es wurde auch dank tätiger Mithilfe prominenter Gäste, wie etwa des Trompeter Dusko Gojkovic, sofort und auf Dauer anerkannt als vollwertige Bigband im klassisch-modernen Stil der Duke-Ellington-Tradition. Aber das ist eine Geschichte für sich.
„New Jazz“ kam auch am zweiten Spielort des Festivals auf den abendlichen Stundenplan – eben im „Onkel Pö“, das sich als neue Heimat des Jazz etabliert hatte. Das Festival war auch für den Club ein starker Schub.
Zum Startprogramm 1975 gehörte hier die Band, die Liebman und Beirach knapp zwei Jahre vorher begründet hatten: unter dem rätselhaft-schönen Namen „Lookout Farm“. Die erste und allseits beachtete Schallplatten-Produktion war für das aufstrebende deutsche Label ECM entstanden, und Liebman wie Beirach, Bassist Frank Tusa und Schlagzeuger Jeff Williams standen unüberhörbar mitten drin im vehementen Auf- und Ausbruch hin zur Freiheit der Musik; und demonstrativ beschwor das Quartett im Hamburger Festivalkonzert auch Themen und Motive von John Coltrane, dem Visionär aller neueren Bewegungen im Jazz damals. Zweifellos hatte sich Liebman, 1975 gerade noch Twen, sehr schnell im Zentrum der Nach-Coltrane-Epoche etabliert; wer den flirrenden Linien zu folgen vermochte, die er den Instrumenten mit radikal forcierter Technik entlockte, hörte immer auch die Echos jener Geschichten, die einst Coltrane erstmals entworfen und formuliert hatte. Und in der gemeinsamen Arbeit entwickelten Williams (damals sehr jung und heute immer noch unerhört agil für ein englisches Label) und Bassist Tusa, der bengalische Perkussionist Badal Roy und vor allem Beirach kollektive Klänge, die Coltranes Ideen verwandelten in Strategien für das moderne Ensemble-Spiel.
Das Konzert am 6. Juni 1975 beginnt mit zwei Liebman-Kompositionen, deren knapp gefasste Motive stets zu weiträumigen Phantasien für entfesselte Solisten werden. Ein Standard folgt, der auch zu Frank Sinatras Repertoire gehörte, und dann die Verbeugung vor Meister Coltrane, dem das Quartett die neuen Freiheiten verdankt. Ein gemeinsam erarbeitetes freches kleines Stück steht am Ende: „Fireflies“, Glühwürmchen, rasen da flirrend und flimmernd durch den Konzertabend …
Von heute aus gehört, tut es gut, den Echoraum für das Abenteuer „Lookout Farm“ in Erinnerung zu rufen – das zerstörerische Moment etwa, das es ja auch gab im radikalen Free Jazz der 60er Jahre, war fast überwunden und begann, der Suche nach neuen Formen Platz zu machen. Zu Beginn vom ersten Hamburger „New Jazz Festival“ ist im Juni genau das live zu erleben: Kraft und Energie und Inspiration des Neuen, das sich mit dem Material überholter Traditionen munitioniert, um tatsächlich Ziele anzusteuern, die sich gerade mal abzuzeichnen beginnen am Horizont. Die Band um Liebman und Beirach bleibt einige Jahre aktiv, und auf der Reise mit und zur „Lookout Farm“ bewegen sich die beiden Freunde mit der Zeit so sicher, dass sie schlussendlich 50 Jahre beieinander bleiben können.
Dass so viel Zukunft möglich war, ist schon im „Onkel Pö“ zu hören.
Michael Laages