Jazzline N 77037 (2CD) / N 78037 (3LP)
ALSO AVAILABLE IN VINYL 180g DIRECT METAL MASTERING
Beschreibung
Vote Dizzy!
Angesichts der jüngsten Entwicklungen auf dem amerikanischen Präsidentenmarkt darf daran sicher mal erinnert werden – auch dieser komische Vogel, auch John Birks Gillespie aus Cheraw im US-Bundesstaat South Carolina, geboren im Oktober 1917, seit Beginn der Profi-Karriere „Dizzy“ genannt und damit grundsätzlich für ein bisschen verrückt erklärt, wollte mal Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden. Im Ernst? Sicher nicht wirklich. Aber anno 1964, im Jahr nach der Ermordung John F. Kennedy´s und tief in der traumatisierten Resignation, die das Land erfasst hatte auch mit Blick auf Kennedys Vize Lyndon B. Johnson, der das Amt übernahm, gab es eine zwar überschaubare, aber höchst originelle Kampagne: „Vote Dizzy!“ Sticker von damals sind viel wert heutzutage.
Der politische Super-Scherz liegt mittlerweile vierzehn Jahre zurück, als das Quartett um Dizzy im März 1978 nach Hamburg und natürlich ins „Onkel Pö“ kommt. Er ist jetzt 60 Jahre alt („Aber ich gehe für 22 durch!“ ulkt er in der Blues-Phantasie kurz vor Schluss des Konzerts), und er hat längst den Status der Legende erreicht. Im reisenden Festival-Paket des Impresarios Norman Granz hat er in den Jahren zuvor regelmäßig die Festivals weltweit bereist, in Montreux am Genfer See entstanden Aufnahmen, in denen der Star-Trompeter unter anderem antrat zur „battle“ mit dem nachrückenden Youngster Jon Faddis, der ihm technisch allemal schon das Wasser reichen konnte. Jahre sind das, in denen der skurrile Meister, der in ganz jungen Jahren mit Bärtchen und Baskenmütze Bebop-Mode kreierte, neue Ziele und Arbeitsstrategien ins Visier nimmt. Das Quartett im „Onkel Pö“ steht beispielhaft für diese Orientierung.
Dizzy hat eine an sich eher sparsame Band im Gepäck: er teilt sich die Solo-Arbeit mit dem gerade 22 Jahre alten Gitarristen Rodney Jones, einem auch seither immer sehr frischen Rumtreiber zwischen den Stilen, der damals schon (kurz vor Schluss der Show) mal schnell John Lennon und Jimi Hendrix aus dem Hut zaubern kann; der ähnlich jugendlich-agile Ben Brown ist mit dem elektrischen Bass dabei. Beim Schlagzeuger Mickey Roker allerdings setzt Dizzy Gillespie dann aber doch deutlich auf die eigene, die Bebop-Tradition – Roker, vom Jahrgang 1932, in Miami geboren, aber musikerlebenslang (bis heute!) in Philadelphia zu Hause, garantiert die Energieversorgung im rhythmischen Haushalt der Band. Im zweiten Teil des „Pö“-Konzert lädt Dizzy dann den Saxophonisten Leo Wright zu sich auf die Bühne, einen der stilprägenden Amerikaner in Europa und im West-Deutschland der frühen Nachkriegszeit, 1933 geboren und 1991 in Wien gestorben, neben Phil Woods einer von Charlie Parkers legitimen Erben und ab 1959 zwei Jahre lang Dizzys fester Quintett-Partner. Im Berlin der 60er Jahre ist Wright auch als Mitglied der SFB-Bigband eine feste Größe des amerikanischen Jazz in Europa gewesen.
Brother Leo steigt bei „Olinga“ ein, einer Komposition des Pianisten Mike Longo, mit dem und dessen Titel Dizzy oft spielt in jener Zeit und die immer zu sehr vergnüglichem Chor-Gesang mit dem Publikum führt … überhaupt gibt sich Dizzy in dieser Epoche der Karriere sehr lustvoll als Clown, als hemmungsloser Entertainer – wenn er an den Congas sitzt und unentwegt Faxen mit dem Publikum macht, nicht nur mit den Damen äugelt; wenn er schräge Ansagen einstreut und etwa gleich zu Beginn, für den zweiten Titel „The land of milk and honey“, als bekennender Anhänger der im nahen und mittleren Osten gewachsenen B‘ahai-Religion etwa Hebräisch spricht und sich als Juden ausgibt – Dizzy spielt nicht nur Trompete, er spielt auch mit uns.
Noch immer gehört er zu den allerschnellsten auf der Piste, rast flirrend in den höchsten Höhen von „lick“ zu „lick“ und phrasiert auf dem wie immer seit Mitte der 50er Jahre gen Himmel gebogenen Instrument. Die Lust an „funky“ Rhythmen hat merklich zugenommen, zuweilen, speziell wenn er gegen Ende dieser unerhört stimmungsvollen zwei Stunden „Dizzys Party“ ausruft, mag sich die Jazz-Gemeinde wie auf einer kernigen Fete bei (dem früheren) James Brown oder (dem späteren) Maceo Parker fühlen. Und auch dafür ist nun gerade „Onkel Pö’s Carnegie Hall“ der richtige Ort, dieses Hamburger Mekka der Live-Musik zwischen Jazz und Rock. Wieder steht in dieser März-Nacht des Jahres 1978 der Übertragungswagen des NDR nah beim Eingang zum kochenden Partyraum – und zeichnet einmal mehr ein Highlight nicht nur der lokalen Jazz-Geschichte auf.
Dizzy forever. 1993, mit 75 Jahren, ist John Birks Gillespie gestorben. Eines der an Abenteuer, Erfahrung und musikalischer Wirkung reichsten Leben im Jazz des vergangenen Jahrhunderts war zu Ende. Und es fehlte halt nur, dass er Präsident geworden wäre.
Michael Laages