Jazzline N 77038 (2CD) / N 77038 (2LP)
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Beschreibung
Chet Baker
An diesem Abend war ich wohl wirklich dabei … wenn auch natürlich viel zu jung, um auch nur erahnen zu können, was da geschah. Aber es war mir gelungen, den tendenziell dem Jazz aufgeschlossenen Musik-Redakteur im Feuilleton der Heimatzeitung zu überreden, mich für’s Blatt von Chet Baker erzählen zu lassen. Dessen Legende war allseits präsent – seit Beginn der Karriere, nach den Anfängen mit Charlie Parker und erst recht beim Senkrechtstart im unvergleichlichen Quartett um dem Bariton-Saxophonisten Gerry Mulligan, war Chesney Henry Baker jr., geboren 1929, immer wieder und immerzu im Strudel der Drogen gefangen; aber zwischen Phasen tief im Heroin und Unterbrechungen in der Methadon-Behandlung entstand eben trotzdem (oder, wer weiß, gerade deshalb … )ein Werk, das seinesgleichen suchte. Wenn irgendjemand die Trompete „cool“ spielte (und nicht letztlich „hot“ wie die Helden des Bebop), dann war das Chet Baker; auf Augenhöhe agierte er neben Miles Davis, dem anderen Sinn- und Stil-Stifter der Epoche.
So viel zur Aktenlage für den Jungspund von Konzertberichterstatter im April 1979 … noch ein paar Legenden kamen hinzu: etwa wie Baker gelegentlich (und auch mal in Hamburg) bei Prügeleien Zähne verlor und danach lange von der Bildfläche verschwunden war, weil Leben und Arbeit mit einem neuen Gebiss zu den extremen Herausforderungen gehört für einen Trompeter, dessen Leben ja abhängt vom Zusammenspiel von Lippen, Luft und eben Zähnen. Seit Mitte der 70er Jahre aber war Baker zurück gekehrt auf die Jazz-Bühne, zwei LP’s waren erschienen mit Aufnahmen der Wiederbegegnung mit Mulligan; und die klangen so wunderbar, dass sie noch heute Kostbarkeiten sind im privaten Archiv. Auch der Bericht aus Hamburg hing übrigens jahrelang am Pinn-Brett …
Mit Gabriele Kleinschmidt, der umtriebigsten Konzertmanagerin jener Jahre in Deutschland, deren abenteuerliche Tour-Pläne den Musikerinnen und Musikern wie der Reiseleiterin selbst oft das allerletzte an Kondition abverlangten, war sogar einen Gesprächstermin mit Mister Baker vereinbart – vom „Motel Hamburg“ an der Hoheluftchaussee ging’s nach nebenan zum Italiener; und zur Pasta erwies sich das Englisch des Berichterstatters als elendig schlecht. Aber viel erzählt hätte Chet Baker wohl auch einem besseren Interviewer nicht – sehr in sich zurück gezogen mümmelte er in den Nudeln herum; schmal sah er aus, verbraucht, viel älter 50 … auf diesen runden Geburtstag bewegte er sich ja gerade zu. Aber dann im „Onkel Pö“ war alles ganz anders – der Mitschnitt des Konzertes lässt mit jedem von Bakers Tönen spüren, wie weggeblasen aller Vorbehalt, alle Skepsis gegenüber dem Medien-Phänomen sein musste.
So klar klingt Bakers Spiel; so kräftig, kompakt und konzentriert. So wenig ruht er sich auch aus in der instrumentalen Routine. So eloquent erzählt er die Geschichten jener Kompositionen, die er ausgesucht hat für diesen Abend; gerade mal fünf Stück für 100 Minuten – Cole Porters Standard „Love for sale“ zur Eröffnung, auf leicht angerocktes Fundament gestellt, die einfühlsame Fabel „You can’t go home again“ von Don Sebesky, dann „There‘ll never be another you“ von Harry Warren als Showcase für Bakers einzigartigen, fragil-verführerischen Scat-Gesang sowie zwei echte Glanzlichter: „Black eyes“ von Wayne Shorter und „Broken Wing“ von Richie Beirach … Chet Baker selbst war ja nie Komponist – aber wie kaum einer sonst besaß er die Gabe, hinein zu horchen in die besten musikalischen Ideen seiner Zeitgenossen und ihnen zu folgen, Meister im Umgang mit Meistern und „kongenial“, wie das viel missbrauchte, aber hier ausnahmsweise mal völlig angebrachte Wort für die Kunst heißt.
Drei Vertreter der Generation nach ihm begleiten Bakers Konzertreise: Phil Markovitz aus New York am Klavier ist wie der aus Belgien stammende Bassist Jean-Louis Rassinfosse 1952 geboren – da feierte Baker den Senkrechtstart mit „My funny valentine“. Auch Charlie Rice am Schlagzeug zählt zur jungen Garde; Bassist Rassinfosse blieb lange Bakers Begleiter. Gerade die Begegnung mit Jüngeren hat Baker gesucht in jenen Jahren, auch der Gitarrist Doug Raney, Jimmy Raineys Sohn, gehörte zu den Partnern. Baker ging auch wieder ins Plattenstudio; einige Klassiker entstanden für „SteepleChase“ in Kopenhagen, andere für „Enja“ in München. Neun Jahre blieben Baker noch.
Wirklich „clean“ und weg von den Drogen war er wohl nie. 1987 spielte er als Gast der NDR Bigband im Hamburger Audimax (und im Rahmen der kurzlebigen Messe „Musica“) – da musste der Schwede Lennart Axelsson, Bakers Instrumental-Kollege und langgedienter Lead-Trompeter des Ensembles, mittendrin für eine Weile von der Bühne gehen: um sich, als Baker sang, die ganze Trauer, das ganze Glück der Begegnung mit Baker von der Seele zu heulen. Im Jahr darauf entstand Bakers Vermächtnis: „The Last Concert“, mit der NDR Bigband und dem Rundfunkorchester Hannover des Senders, aufgenommen in Hannover keine zwei Wochen vor Bakers Tod.
Auch um den ranken sich Legenden - aus einem Fenster des Hotels „Prins Hendrik“ gegenüber vom Hauptbahnhof in Amsterdam soll Baker gestürzt sein. Vielleicht ist er aber auch an der Regenrinne empor geklettert, als ihn die Herberge raus geschmissen und er die Trompete im Zimmer vergessen hatte … Das Hotel bietet sein Zimmer von damals heute als „Chet Baker Suite“ an. Eine Tafel neben dem Eingang erinnert an das Genie, das in sich selbst und an sich selbst verloren ging.
Michael Laages
PS: Ach ja, auch das konnte "Onkel Pö's Carnegie Hall" sein - ein richtiger Konzertort! Nicht nur ein Schuppen für die Jazz- oder Blues-Fete, sondern Kunst-Raum pur ... Harriet, die Frau an der Bar, hat mit darüber gewacht, dass da kein Geklapper mit den Gläsern die Musik störte.