Jazzline N 77045 (CD) / N 78045 (2LP)
ALSO AVAILABLE IN VINYL 180g DIRECT METAL MASTERING
Beschreibung
Erben lernen
Schon dass mit dieser Veröffentlichung erinnert werden kann an einen so besonderen und außergewöhnlichen Musiker, ist ein Ereignis für sich und Freude pur – denn natürlich ist Woody Shaw nach dem viel zu frühen und extrem tragischen Tod im Mai 1989 für viel zu viele verschwunden vom persönlichen Jazz-Horizont. Zu Unrecht, natürlich – Shaw markiert eine Position in der jüngeren Geschichte der Jazz-Trompete, die kaum je zuvor und selten danach so klar, so präzise, so kraftvoll beschrieben worden ist: als flirrend-filigranes Virtuosentum eines Zeitgenossen, der sich vollgesogen hatte mit praktisch allen Traditionen zuvor – Modernität und Geschichtsbewusstsein als Seele des Jazz.
Und Woody Shaw steht bei diesem Besuch in „Onkel Pö’s Carnegie Hall“ am 13. Januar 1982 im Zenith der persönlichen Entwicklung; nicht auszudenken, wenn ihm mehr als nur sieben weitere Jahre geblieben wären … Ein ganz und gar sensationelles Team hat er obendrein dabei, von allen Mit-Musikern wird in der Folge ausführlich, intensiv und immer wieder die Rede sein: vom Schlagzeuger Tony Reedus wie vom Bassisten Stafford James, vom Pianisten Mulgrew Miller und vor allem vom jungen Posaunisten Steve Turre, der spätestens neben Lester Bowie bald darauf zur neuen jungen Stimme der Jazz-Posaune wird und Orientierung stiftet für eine ganze Generation. Band-Leader Woody wird das geahnt haben, als er (anders als viele Chefs in dieser CD-Reihe „Live aus dem Onkel Pö“) gleich nach dem Eröffnungstitel die Band-Mitglieder vorstellte: bescheiden, freundlich, zugewandt wie immer. Dieser Woody Shaw ist ein echter Meister der Zunft gewesen; Menschen wie er werden vermisst in diesem Business, das gemeinhin ja Hybris auszeichnet, nicht Mensch-lichkeit.
Auch Shaw, geboren Heiligabend 1944 in Laurinburg (North Carolina) als Sohn eines Gospelsängers, der ihm ursprünglich den eigenen Namen Woody Brown weiter reichte, ist ein Geschichtenerzähler; er lässt sich und den Kollegen viel Zeit, die eigenen Phantasien live auf der Bühne zu entwickeln. Die eigenen sind geprägt von technischer Brillanz (wie beim Vorbild Freddie Hubbard) und zupackender Attacke in der Tongebung; Shaw ist extrem schnell, wenn er will, und verliert dabei nie die Klarheit der musikalischen Sprache. Zugleich klingt immer alles wie zum ersten Mal erzählt – Kollege Randy Brecker sah Shaw als „letzten in einer Reihe von Trompetern, die wirklich etwas Neues in den Trompeten-Jazz eingebracht haben“, er habe „wirklich eine neue Sprache“ gefunden. Auch das muss Woody Shaw gewesen sein: ein „musician’s musician“, hoch geschätzt zuallererst von den Kolleginnen und Kollegen, die sich freuten, mit ihm spielen zu können.
Als 11jähriger bekommt er den ersten Unterricht; als er 20 ist und erste Erfahrungen gesammelt hat, lädt ihn Eric Dolphy kurz vor dem Tod noch nach Paris ein. Ein Jahr bleibt er dort, lernt Bud Powell, Johnny Griffín oder Kenny Clarke kennen – eine prägende Zeit. Zurück in New York, steigt Woody Shaw bei Horace Silver ein, später trifft er auf McCoy Tyner oder Max Roach. Erste Aufnahmen unter eigenen Namen folgen seit Beginn der 70er Jahre, zeitweilig gehört Shaw auch zum line-up bei Art Blakey oder Gil Evans. Die Berliner „Jazztage“ entdecken den Trompeter 1976, davor und danach war Shaw auch Gast in der „Concert Jazz Band“ vom Berliner Festival-Chef George Gruntz. Überhaupt rückt jetzt Europa wieder stärker ins Zentrum, der Besuch im Hamburger „Onkel Pö“ (wo Shaw auch schon drei Jahre zuvor vorbei geschaut hatte) war Teil einer Art von „artist’s residence“ in der Alten Welt, die den Jazz bekanntlich höher schätzte (und schätzt!) als das Mutterland USA. Immer wieder wird Paris zum Standort – Mitte der 80er Jahre formiert sich auch um Woody Shaw eine „Paris Reunion Band“.
Und dann dieses Drama … Woody Shaw ist gezeichnet von fatalen Krankheiten. Er verliert langsam, aber beständig Augenlicht und Sehkraft, und in diesem Zustand stürzt er vor eine U-Bahn in New York. Er verliert einen Arm. Wenige Wochen später versagen die Nieren. Woody Shaw stirbt am 10. Mai 1989. Den 45. Geburtstag hat er nicht mehr erlebt.
Seine Musik, hier dokumentiert in der Konzert-Konzentration, die das „Onkel Pö“ eben auch immer bieten konnte neben der feurig delirierenden Hexenkesselstimmung bei Entertainern wie Dizzy Gillespie oder Blues-Feuerwerkern wie Albert Collins, ist eine großes, wichtiges Erbe im zeitgenössischen Jazz. Und dieses Erbe ist jetzt um eine funkelnde Facette reicher. Wer zuhört, lernt erben.
Michael Laages