Jazzline N 77041 (2CD) / N 78041 (2LP)
ALSO AVAILABLE IN VINYL 180g DIRECT METAL MASTERING
Beschreibung
Anhörungsunterricht
Eine Emanzipation der besonderen Art steht immer mit auf dem Programm, wenn das Ensemble eines Schlagzeugers die Konzertbühne erobert. Denn zwar hatte sich immer mal wieder ein Vertreter der ursprünglichsten aller musikalischen Spielarten durchgesetzt auch als Leiter eines Orchesters, wie etwa Ella Fitzgeralds legendärer Entdecker und Förderer Chick Webb – aber bevor nicht die Studio- und Aufnahme-Technik größere Fortschritte machte bei der Reproduktion von Musik und also auch Feinabstimmung möglich wurde im Instrumentarium des Trommlers, blieb die zentrale Rolle des Rhythmikers eingeschränkt. Das nicht eben große Wertschätzung ausstrahlende Wort vom „Rhythmusknecht“ spiegelte ja die Realität auch im Jazz, wie wichtig Musiker wie George Wettling oder Zutty Singleton auch im alten Jazz gewesen sein mochten.
Die Befreiung des Instrumentariums beginnt im Grunde wohl erst mit Gene Krupa – und selbst dessen fein und kraftvoll strukturierte Arbeit in Benny Goodmans Orchester beim legendären Carnegie-Hall-Concert vom Januar 1938 ist im Mitschnitt des geschichtsträchtigen Ereignisses mehr zu ahnen als zu hören. Von da aber führt der Weg dann recht schnell zu den stilstiftenden Meistern, den Hexern und Zauberern am Schlagzeug: neben vielen anderen Buddy Rich und Max Roach, Kenny Clarke und Art Blakey, Mel Lewis - und eben Elvin Jones. Er bringt im September 1981 ein erstaunliches Sextett mit an den Lehmweg nach Hamburg-Eppendorf und in „Onkel Pö’s Carnegie Hall“. Auch dieses Konzert ist hier in voller Länge und entspannter Schönheit dokumentiert.
1981 hat der 1927 in Pontiac geborene Elvin Ray Jones, jüngstes von zehn Kindern und Bruder des Pianisten Hank und des Trompeters Thad Jones, die bedeutendste Prägung schon eine Weile hinter sich – gut eineinhalb Jahrzehnte zuvor hatte der Schlagzeuger das Quartett des charismatischen Saxophonisten John Coltrane schon wieder verlassen, dem er fünf Jahre lang angehört hatte; an Meilenstein-Produktionen wie etwa „A Love Supreme“ war auch Elvin Jones beteiligt gewesen. Schon vor und erst recht nach der Coltrane-Periode bereicherte der Schlagzeuger die unterschiedlichsten modernen Jazz-Ensembles, zum Deutschen Jazzfestival in Frankfurt kam er im Jahr 1978 zum Beispiel als Mitglied der europäisch-amerikanisch sortierten „Concert Jazz Band“ des Schweizer Pianisten, Arrangeurs und Komponisten George Gruntz.
Stets gehörte Elvin Jones dabei zu jenen Schlagzeugern, die umstandslos im Mittelpunkt stehen konnten: als kraftstrotzendes Bündel aus Inspiration und Energie, eher rauh im Umgang mit dem Instrumentarium und doch auch filigran in den rhythmischen Strukturen des eigenen Spiels. Schon an der Dauer und am Ablauf einzelner Titel, auch in diesem Hamburger Mitschnitt, ist viel von diesem immensen Selbstbewusstsein zu spüren - Jones nämlich beweist wirklich langen Atem; kaum eines der Themen, die er ausgewählt hat für das Konzert, bleibt unter zwanzig Minuten Spielzeit. Spätestens in der Epoche des Hardbop hatte sich ja diese entspannte, alle früher gültigen Grenzen rein formal sprengende Haltung durchgesetzt – Musiker „erzählten“ jetzt auf den Instrumenten, solange es etwas zu erzählen gab; und manchmal auch noch ein bisschen länger.
„Jazz Machine“ nannte Elvin Jones das eigene Ensemble; was allerdings wenig damit zu tun hat, dass das Schlagzeug hier etwa maschinell und kalt geklungen hätte – eher im Gegenteil. Die Besetzung dieser „Maschine“ fiel zudem ziemlich aus dem Rahmen – Jones hatte mit Carter Jefferson (der schon Mitte der 90er Jahre starb) und Dwayne Armstrong gleich zwei Tenor-Saxophonisten eingeladen; und markierte auch so den wuchtigen Sound der Gruppe. Den Hörnern gegenüber agierte überraschenderweise der Gitarrist Marvin Horne; und mit dem japanischen Pianisten Fumio Karashima verfügte die Jones-„Machine“ speziell in den Balladen, hier „In a sentimental mood“ und „My one and only love“, über einen ganz und gar unmaschinellen Melodiker, der dem Konzertprogramm obendrein sogar eine sehr nennenswerte Dosierung fernöstlicher Melodik und Harmonik mit auf den Weg gab. Mit Karashima und dem bewährt-routinierten Bassisten Andy McCloud hatte Elvin Jones kurz vor der hier dokumentierten Europa-Tour auch eine Trio-Platte eingespielt.
Das Material der Aufnahme aus dem „Onkel Pö“ speist sich mit knappen Themen und Motiven aus allen gängigen Quallen der Hardbop-Zeit; gern und oft setzt sich auch der Blues als Basis durch. Und mittendrin präsentiert immer wieder Elvin Jones selber die eigene Meisterklasse – das ist auch über dreieinhalb Jahrzehnte danach (und lange nach dem Tod von Elvin Jones 2004) immer noch Anschauungs-, besser: Anhörungsunterricht für alle, die nach Orientierung suchen in der Geschichte der Emanzipation, die das Schlagzeug im Jazz durchlebt hat; bis heute.
Michael Laages