Jazzline N 77006 (CD) / N 78006 (LP)
ALSO AVAILABLE IN VINYL 180g DIRECT METAL MASTERING
1957 COLOGNE, GÜRZENICH CONCERT HALL
Beschreibung
Vor allem in den Anfangsjahren des Modern Jazz Quartet erweist sich Europa als dankbares Terrain. Hier landet die Band erste Erfolge, während man ihr in den USA noch eine gewisse Zurückhaltung entgegenbringt. Anlässlich der 1000. Ausgabe von Joachim-Ernst Berendts Konzertreihe Jazztime Baden-Baden 1956 treten sie mit Kurt Edelhagen und Miles Davis auf. Auf einer Birdland All Stars-Tournee stellt sich das MJQ in weiteren deutschen Städten vor – und teilt die Bühne mit Davis, Lester Young und Bud Powell. Direkt im Anschluss an den angeschlagenen Bebop-Pianisten spielend, fällt die Begeisterung für das kultivierte Quartett umso größer aus. Dieter Zimmerle, Gründer und damals Herausgeber der Zeitschrift Jazz Podium: "Wenn es jemandem gelingen konnte, die nach Powells Auftritt spürbare Bedrückung wieder aufzuheben, so waren es die vier Musiker, die danach in des Wortes echtester Bedeutung konzertierten."
Wenn beim Verb "konzertieren" auch die Vorstellung von seriösem Auftreten latent mitschwingt, dann wurde das MJQ dem mehr als gerecht. Im Vorfeld der anstehenden Europatournee 1957, bei der die Band ausschließlich Einzelkonzerte gibt, wendet sich ihr Leiter an die Veranstalter mit einer Bitte:
"Auf besonderen Wunsch von John Lewis…finden die Konzerte weitgehend in kleineren, der Kammermusik vorbehaltenen Sälen statt. Damit soll nicht nur der Musik des MJQ der entsprechende Rahmen gegeben werden, sondern man hofft auch, auf diese Weise ein Konzertsaal-Publikum heranzuziehen, das bisher abseits stand, weil sich die Gruppe meist nur in ungemäßer Umgebung vorstellen konnte."
Zu den Spielstätten, deren Räumlichkeiten und Ambiente als "angemessen" erscheinen, gehört u.a. das Mozarteum in Salzburg. Die Deutschlandtermine im Oktober und November bringen das Quartett nach Frankfurt, Hannover, Bremen, Hamburg, Donaueschingen (MPS: The Historic Donaueschingen Jazz Concert 1957), Berlin, Duisburg, Rheda, Essen, Dortmund, Köln und Stuttgart. Im Rahmen der Stuttgarter Woche der Leichten Musik führen Harald Banters Media-Band und das MJQ Gunther Schullers Zwölfton-Komposition "Twelve by Eleven" auf.
Durchgeführt wird die Tournee vom Konzertreferat der Deutschen Jazz Föderation (DJF). Deren Präsident Olaf Hudtwalcker geht im Vorwort des Programmhefts noch einmal auf die Spielstätten-Diskussion ein: "Die Frage, ob Tanzlokal, Schaubühne, Jazzclub oder Konzertsaal entscheidet nicht die künstlerische Qualität, wohl aber die Wirkung der Präsentation."
War das MJQ 1956 in den Kölner Messehallen aufgetreten, ist nun der Gürzenich gebucht. Eineinhalb Jahre zuvor fand dort zum ersten Mal ein Jazz-Konzert statt – mit dem Ensemble jenes Mannes, der alsbald in Stuttgart mit dem MJQ zusammenarbeiten sollte, Harald Banter: "Was ich gemacht habe, war distinguiert, unterkühlt, Kammermusik. In Wuppertal oder irgendwo sonst flogen auf einmal Bierdeckel auf die Bühne… In Köln dachte ich: Das ist ja wie im Sinfoniekonzert. Klar, dass die Krawatten trugen… Alle seriös gekleidet, diszipliniert und der Saal picke-packe-voll."
Zumindest in Köln war der Jazz in der bürgerlichen Konzert-Kultur angekommen. Das Düsseldorfer Boulevard-Blatt Spätausgabe brachte mit seiner Überschrift die Bedeutung des Banter-Abends in gebotener Knappheit auf den Punkt: Jazz gesellschaftsfähig.
Zu ihrem Gürzenich-Debüt am 6. November erscheinen die Herren des MJQ wie gewohnt im Smoking, mit Fliege anstelle von Krawatte. Der Saal – im Zweiten Weltkrieg fast vollkommen zerstört und ab 1955 wieder als Veranstaltungsort genutzt – erinnerte zwar kaum noch an seine prunkvolle Geschichte, dennoch bot er einen willkommenen Kontrast zum fragwürdigen Charme der Messehallen. Der Gürzenich (1447 fertig gestellt) war ein nicht nur altersbezogen geschichtsträchtiger Bau: Karl Marx verkündete hier 1849 sein Manifest der Kommunistischen Partei, in den Jahrhunderten zuvor hielten Kaiser und Könige festliche Empfänge ab.
Ob der Pianist seine Komposition "The Queen's Fancy" in Anbetracht der royalen Historie zum Eröffnungstitel erkoren hat, ist reine Spekulation. So oder so, ein passender Einstieg, denn mit Lewis' Faible für barocke Fugen demonstriert die Band gleich zu Beginn, was nicht weniger als ein Grundpfeiler ihrer Ästhetik war: eine coole Verbindung von Jazz mit kompositorischen Elementen aus der europäischen Klassik. Auch "Fontessa" vereint in diesem Sinne Alte und Neue Welt. Zwei Titel erinnern daran, dass die Musiker ursprünglich aus dem Bebop kommen – wenngleich die unterkühlten Interpretationen kaum noch an die hitzigen Originale erinnern: Mit den Dizzy Gillespie-Kompositionen "A Night In Tunisia" und "Woody'n You" erweisen sie ihre Referenz an Lewis', Jacksons und Heaths ehemaligen Arbeitgeber, aus dessen Big Band sich nach Auflösung der Formation 1952 der Kern des späteren MJQ rekrutiert. "Bluesology" war ein Paradestück für den wohl bluesigsten aller Jazzvibraphonisten (Jackson hatte direkt vor Tour-Beginn das Blues-lastige Album Soul Brothers mit Ray Charles aufgenommen). "Three Windows", "One Never Knows", "Venice" und "The Golden Striker" sind vier Titel aus dem im Sommer eingespielten Soundtrack des französischen Films Sait-on Jamais (No Sun in Venice). Und angesichts des nahenden Winters entschließen sich Lewis & Co, noch ein altes englisches Weihnachtslied ins Programm aufzunehmen, "God Rest Ye Merry, Gentlemen". Das Publikum spendet mehr als nur freundlichen Applaus. Und so kehren die Gentlemen bereits 1959 in den Gürzenich zurück.
Karsten Mützelfeldt