SARAH VAUGHAN

N 77031Jazzline N 77031 (CD) / N 78031 (LP)

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Live in Berlin 1969

Die Assoziation des Jazz mit Alkohol ist so alt wie die diese Musik selbst. Aber nicht immer geht es dabei um ein scheinbar unausweichliches Stigma. Ob nun aus Ermangelung an sprachlichen Begriffen oder nicht - gelegentlich taugen Spirituosen als verblüffend stimmige Umschreibung klanglicher Charaktere. Während der Altsaxophonist Paul Desmond den eigenen Ton mit einem trockenen Martini verglich, wurde dem Baritonsaxophonisten Gerry Mulligan nachgesagt, er klinge wie Bier mit Korn. Und eine Biographin von Sarah Vaughan diagnostizierte, dass sich deren Stimme von einem eleganten Wein in einen samtigen Cognac verwandelt habe.

Dianne Reeves, die sich mit dem Album Celebrating Sarah Vaughan – Calling vor ihrem Vorbild verneigte, bestätigt diesen Eindruck: "Deine Stimme verändert sich nicht nur mit dem Alter, sondern auch mit dem Wissen und der Erfarung. Wenn du jung und unschuldig bist, dann ist die Stimme noch hoch und trällernd. Sobald du mehr über das Leben lernst, schlägt sich das in der Stimme nieder. Was ich an Sarah Vaughan liebe, ist, dass sie, obwohl ihre Stimme von einem guten Wein zu einem edlen Cognac reifte, ihre Tonlage beibehalten hat - das passiert selten, meistens verlieren Sänger ihren Tonumfang und die Kontrolle über die Stimme." (2001, Interview des Autors)

Diese Kontrolle, gepaart mit einer seltenen Wandlungsfähigkeit und sophistication, brachte Vaughan früh einen Beinamen ein, der noch über die beliebte Adelung von Jazzmusikern hinausging und sie in höhere Sphären transportierte, als ob jeder irdische Vergleich zu kurz greifen würde: "The Divine One", "die Göttliche" – eine nominelle Überhöhung, die zuvor nur den Schauspielerinnen Sarah Bernhardt und Greta Garbo zuteil geworden war. Selbst Vergleiche mit einer Opernsängerin waren keine Seltenheit, Betty Carter etwa sah in ihrem Potential eine Nähe zu Leontyne Price, der ersten "schwarzen Diva" des Opernbetriebs, von Vaughan immer wieder bewundert. Wenn Mel Tormé die Jazzsängerin nur noch als "The Diva" bezeichnete (was gefühlt irdischer als "The Divine" klingt, aber das Gleiche bedeutet), dann einzig aufgrund ihre vokalen Ausnahmestellung und nicht wegen eines exzentrischen, launigen Diven-Gehabes, das Vaughan fremd war – ganz im Gegensatz zu einer Sarah Bernhardt oder mancher Opern-Primadonna. Ein anderer, ungleich privaterer Spitzname verriet da schon mehr über Sarahs Verhalten: "Sassy" – so nannten sie nur engste Freunde, Mitmusiker und Hardcore-Fans – war eine Anspielung auf ihren direkten und bisweilen kecken Humor. 

Etwas, das das Publikum der Berliner Jazztage in einer bestimmten Periode nicht gerade auszeichnete, im Gegenteil: Ende der 60er bis weit in die 70er Jahre zeigte es sich ausgesprochen humorlos und teilweise arrogant – was ihm den zweifelhaften Ruf des "weltweit gefürchtetsten Jazz-Publikums" einbrachte.

Duke Ellington konnte davon ein Lied, besser: einen Blues singen, auch das Modern Jazz Quartet und Stan Kenton, eine Carla Bley, ein Sonny Rollins, George Duke und Herbie Hancock, ein Tony Williams, Keith Jarrett und Ornette Coleman, eine Ella Fitzgerald, Carmen McRae und, ja, auch eine Sarah Vaughan – sie alle wurden ausgebuht und ausgepfiffen. Und gelegentlich gesellten sich zum Instrumentarium auf der Bühne diverse zu Wurfgeschossen umfunktionierte Dinge wie Flaschen, Eier und Gemüse. Die Zeitung Die Welt kommentierte diese "umgekehrte" Publikumsbeschimpfung so: "Wer in Berlin nur schöne Lieder sang und dabei ein feines Abendkleid trug wie einst Sarah Vaughan bei ihrem Auftritt zu Zeiten des Vietnamkrieges, der wurde wegen seines mangelnden Problembewusstseins ausgebuht und mit Klopapierrollen beworfen." (Josef Engels, Die Welt, 31.10.2014)

Bei ihrer vorherigen Berlin-Visite war Vaughan (damals mit dem Pianisten Bob James an ihrer Seite) davon noch verschont geblieben. Das Jahr 1967 hatten die friedliebenden und Friedensverliebten Hippies geprägt und die Berliner Jazztage fanden wenige Monate nach dem geschichtsträchtigen "Summer of Love" statt. Einzig der Künstlerische Leiter Joachim Ernst Berendt fühlte sich provoziert, als drei führende deutsche Musikjournalisten mit breiten Blumenkrawatten und einem "Sgt. Pepper's" spielenden Kassettenrekorder durchs Foyer der Philharmonie wandelten. Auch sie warfen beim Auftritt von Sarah Vaughan etwas auf die Bühne, allerdings waren es - weiße Lilien … 

Von derartigen Liebesbekundungen konnte 1969 keine Rede mehr sein. "Es war die Zeit des Vietnamkriegs. Es war die Zeit, als der Nachholbedarf an amerikanischem Jazz abflaute und eine starke Politisierung des Jazz oder besser gesagt: der Jazzrezeption einsetzte." (Christian Broecking, Berliner Zeitung, 3.11.2004) 

1969 hatten Free Jazz-Musiker in Berlin die FMP (Free Music Production) gegründet, angetrieben vom Wunsch, sich mehr Gehör und Kontrolle über die Produktionsbedingungen zu verschaffen. Electric Jazz und Rock-Jazz gewannen an Popularität, während der Mainstream-Jazz US-amerikanischer Provenienz nicht nur dahinsiechte, sondern seine Ausstrahlungs- und Anziehungskraft längst eingebüßt hatte und für nicht wenige nur noch gehobenes Entertainment fürs Establishment war.

Abgesehen von einer diffusen Anti-Haltung gab es aber auch Kritik, die sich an Konkretem festmachte. Zum einen ignorierte Vaughan ihr vorgegebenes Zeitlimit und überzog um Längen (was bei Einzelkonzerten vielleicht goutiert wird, nicht aber bei Festivals). Zum anderen bot sie ein überwiegend balladeskes, sentimentales Repertoire, das in den Ohren der Jazz-Puristen einem artifiziellen Kitsch gleichkam, allzu gediegen und allzu nah an gepflegtem Bar-Ambiente. Berendt konterte die Kritik in einer im Jazz Podium abgedruckten Replik mit dem Verweis auf Vaughans Befindlichkeit: 

"Sassy war diesmal in Berlin 'blue and sad and lonesome'. Sie hatte sowohl am Nachmittag wie am Abend vor ihrem Auftritt geweint. Und die Größe eines Jazz-Musikers – zumal einer Sängerin – liegt darin, ihr persönliches Empfinden unmittelbar in Musik umzusetzen. Es war ihr Recht, langsame Stücke zu singen, wenn das ihrer Situation entsprach, und wenn sie das mit so viel Meisterschaft tat, wie sie auch diesmal wieder bewiesen hat."

In diesen aufgewühlten Zeiten stieß vor allem im politisch so sensiblen und übersensibilisierten Berlin der jazzmusikalisch noble und so unverbindlich daherkommende Adel aus Übersee auf wenig Gegenliebe. Und auf die (keineswegs die Mehrheit abgebende und auf dieser CD nicht zu hörende) Buh-Fraktion wirkte der Respekt-heischende Titel einer "Diva" und "Göttlichen" nur noch blasiert.

Ausländische Beobachter des Festivals reagierten ob der demonstrativen Ablehnung geschockt. Der britische Journalist Richard Williams, seit 2015 selbst Künstlerischer Leiter des Jazzfests Berlin, notierte im Melody Maker unter der Überschrift 'Infamy': "Sassy, the peerless singer who can do anything, was BOOED … and one can only say that the perpetrators of this infamy must be cloth-eared berks of the first water. She looked gorgeous and sang superbly, and I don't wish to make any further comment on that cretinous audience which refused to hear greatness when it was put before them." (Melody Maker, 15.11.1969) 

Sarah Vaughan hingegen zeigte sich – zumindest äußerlich – unbeeindruckt. Und der Mitschnitt dokumentiert, dass sie ihr Repertoire keineswegs mit professioneller Routine herunterspulte. Die Zurückhaltung ihres Begleittrios mit Johnny Veith, Gus Mancuso und Ed Pucci rückte ihre Gesangskunst nur noch stärker in den Fokus. Vaughan zog alle Register ihres Könnens und bewies, unter den Grandes Dames des Vokaljazz eine eigene Kategorie abzugeben: Sie, die sich selber nie als "Jazz-Sängerin" verstand, war etwas, für das es im englischen Sprachgebrauch durchaus einen treffenden Begriff gibt: ein "song stylist".

Karsten Mützelfeldt