Jazzline N 77002 (CD) / N 78002 (LP)
ALSO AVAILABLE IN VINYL 180g DIRECT METAL MASTERING
1969 DUESSELDORF
Beschreibung
The John Coltrane Quartet. Solange man einen Saxophonisten als quasi „natürlichen“ Leader einer Gruppe mit begleitendem Klaviertrio betrachtet, eine treffende Bezeichnung. Doch eine feste Formation dieses Namens sollte erst im folgenden Jahr entstehen, jene Band mit McCoy Tyner, Jimmy Garrison und Elvin Jones, die alsbald den Gang der Jazzgeschichte verändern wird.
In Düsseldorf agiert ein anderes „John Coltrane Quartet“, das seines gar nicht war. Der Pianist als auch die Rhythmusgruppe sind in jenen Tagen in Diensten von Miles Davis. Und der Trompeter hätte eigentlich auch auftreten sollen – unter eigenem Namen (und mit Coltrane). Dazu kam es nicht. Was war passiert?
Das Davis Quintett befindet sich zu dem Zeitpunkt auf Europatournee. Eine Reise, die aufzeigt, dass das musikalische Verständnis zwischen dem Schwarzen Prinzen und seinem Saxophonisten nicht nur Risse bekommt, sondern aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen eine Trennung unausweichlich scheint. Coltrane weiß durchaus zu schätzen, welch ungewöhnlichen Spielraum ihm Davis gewährt.“I've been so free here, you know,...almost anything I want to try I am welcomed to do it, you know!” Doch Reisende kann man nicht aufhalten. Noch während der Skandinavien-Tournee wird sein Verlangen, die Band zu verlassen, immer größer. Nur noch widerwillig erfüllt er sein Engagement, schweigend und missmutig. Als ihm ein schwedischer Rundfunkmoderator am Ende eines Pauseninterviews mitteilt, das Davis-Konzert gehe weiter, rutscht Coltrane ein unüberhörbarer Seufzer heraus. Die Themen spielt der Saxophonist kaum noch mit, einzig in den Soli scheint er aufzuleben. Seine Improvisationen werden zusehends komplexer und länger. Für manche zu lang. Schon Miles Davis rät Coltrane, das Saxophon irgendwann aus dem Mund zu nehmen. Erfolglos. Ungeduldig und lustlos bringt Coltrane die Tour zu Ende. In die USA zurückgekehrt, verlässt er das Davis-Quintett.
Sein letztes Engagement als sideman findet am 10. April in Stuttgart statt. Den Schlusspunkt der Tournee bilden Konzerte, die der Impresario Norman Granz unter dem Motto JATP Presents Jazz Winners of 1960 präsentiert: ein All-Star-Paket mit dem Davis Quintett, dem Stan Getz Quartett und dem Oscar Peterson Trio. Als die Davis-Band sechs Tage nach ihrem Stockholmer Konzert Düsseldorf erreicht und ein geplanter Fernsehauftritt in einem Studio des WDR ansteht, zieht Miles lustlos seine Zusage zurück und lässt Coltrane den Vortritt. Ohne ihren Bandleader treten Wynton Kelly, Paul Chambers und Jimmy Cobb geschlossen an, später tauchen noch Stan Getz und Oscar Peterson auf.
Das Programm beginnt mit Klassikern aus dem Repertoire der Davis-Band: „On Green Dolphin Street“, „Walkin'“ und das aus bei Miles-Konzerten als Ausklang obligatorische „The Theme“. Der anschließende Balladen-Medley (bei den JATP-Veranstaltungen ein fester Programmpunkt) eröffnet mit „Yesterdays“, „Autumn Leaves“ und „What's New“, bevor in „Moonlight in Vermont“ mit Getz ein zweiter Tenorist hinzukommt: Damals in Kopenhagen lebend und in Europa ungleich bekannter als Coltrane, stand er kurz vor seinem Durchbruch zu einer weltbekannten Größe, dank des unmittelbar bevorstehenden Bossa-Nova-Fiebers. Wenn die stilistischen Unterschiede in der Spielweise von Coltrane und Kelly schon ihren Reiz haben, so gilt dies erst recht für die Konzepte der beiden Saxophonisten. Im abschließenden „Hackensack“ (auch bekannt als „Rifftide“) wird Kelly von Oscar Peterson abgelöst, mit dem Getz bereits 1953 auf dem Album Diz and Getz zu hören war.
Zu den wenigen Augenzeugen zählte mit Gerd Dudek einer der brillanten und bis heute unterschätzten Tenor- und Sopransaxophonisten Europas. Der damals 21-Jährige war wenige Wochen zuvor in das Orchester von Kurt Edelhagen aufgenommen worden und kannte das 1959 zum Fernsehstudio umfunktionierte Apollo-Theater bereits von mehreren TV-Produktionen der Band. Gemeinsam mit seinem Orchester-Kollegen Dusko Goykovich hatte er sich nach Düsseldorf aufgemacht, um Miles (auf den sie lange und vergebens warteten, ohne zu wissen, was der eigentliche Grund für sein Fernbleiben war) und seine Helden live zu erleben: Getz, Dudeks erstes großes Vorbild, das er anfangs bis Detail zu imitieren versuchte, und Coltrane, der sich als sein bis heute wichtigster Einfluss entpuppen sollte. Ein für ihn unvergessliches Erlebnis, auch deswegen, weil dies kein öffentliches Konzert und außer dem Kamerateam, Technikern und der WDR-Redaktion so gut wie niemand im Studio war (der Applaus wurde im Anschluss an die Produktion dazugemischt, um Konzert-Atmosphäre zu suggerieren). Die persönlichen Begegnungen Dudeks mit seinen Heroen fielen durchaus unterschiedlich aus: Während sich Getz entspannt im Schneidersitz auf ein Gespräch einließ, stand Coltrane einsam in der Cafeteria des Apollo-Theaters, schweigend.
Karsten Mützelfeldt