Jazzline N 77003 (CD) / N 78003 (LP)
ALSO AVAILABLE IN VINYL 180g DIRECT METAL MASTERING
1960 ESSEN, GRUGAHALLE
Beschreibung
1958, zwei Jahre vor dem Essener Auftritt, hatte sich nach Umbesetzungen der Rhythmusgruppe jene Band formiert, die als das „klassische Brubeck Quartett“ Geschichte schreiben wird: Dave Brubeck, Paul Desmond, Gene Wright, Joe Morello. Die Gruppe verstand das Kunststück, Intellekt und kommerziellen Erfolg miteinander zu vereinen, und avancierte schnell zur herumgereichten Hausband der Universitäten und Colleges. Spätestens seitdem haftet dem Pianisten das Image eines Akademikers an. Dazu tragen nicht nur Kontrapunkt und eine gelegentliche Zwölftonreihe bei: Er ist es, der den Jazz in die Lehranstalten trägt – anfangs kaum aus missionarischen Gründen. In der Hoffnung, ihren rastlosen Mann für längere Zeit in Kalifornien halten zu können, schreibt Brubecks Frau Briefe an alle näher gelegenen Hochschulen der Westküste. Ihr Wunsch wird erfüllt: Die Einladungen lassen nicht lange auf sich warten, und das Dave Brubeck Quartett erobert sich ein neues Terrain. Die Plattentitel künden von der Immatrikulation des Jazz: Jazz Goes to College, Jazz Goes To Junior College, Brubeck on Campus. Das akademische Publikum folgt ihm auch außerhalb der Hörsäle - und das bis heute. Brubeck will diese Öffnung unbedingt, doch er kann nicht ahnen, dass damit der Weg für einen Boom der Jazzpädagogik geebnet wird. Man dankt es ihm - auch hierzulande: 1994 erhält Dave Brubeck die Ehrendoktorwürde der Universität Duisburg (nicht vergessen aber seien Ausflüge, bei denen die Vier vom Image einer weißen Akademiker-Vereinigung abwichen: So nahm das Quartett ein Album mit dem schwarzen Bluessänger Jimmy Rushing auf und befasste sich gegen Ende seiner Erfolgsgeschichte mit mexikanischen Volksliedern).
Die Essener Grugahalle strahlte alles andere als Elfenbeinturm-Flair aus. Am 25. Oktober 1958 war der gigantische Veranstaltungsort offiziell eingeweiht worden. Drei Tage später spielten Bill Haley & his Comets, nachdem Kurt Edelhagen eröffnet hatte (sic!) – ein Konzert, das wegen Tumulten von Jugendlichen in die Annalen eingehen sollte und den Spielort im wahrsten Sinne des Wortes „schlagartig“ bekannt werden ließ (Gleiches spielte sich in Hamburg ab, die Krawalle erreichten ihren Höhepunkt beim legendären Konzert im Berliner Sportpalast). Ein halbes Jahr nach dem Haley-Auftritt fanden in der Grugahalle die ersten Essener Jazz-Tage statt.
Das Programm der zweiten Festivalausgabe am 2. und 3. April 1960 bot ein für damalige Verhältnisse einmaliges Star-Aufgebot: das Michael Naura Quintett, Helen Merril, das Coleman Hawkins Quartet, das Oscar Pettiford Trio, Quincy Jones and his Orchestra, Maxim Saury and his New Orleans Sound, Peanuts Holland, Champion Jack Dupree, Stephane Grappelli, Muggsy Spanier und die Dutch Swing College Band. Die Euphorie, die dem Pianisten (aber auch dem heimlichen Star der Band, dem so ungleich seelenvoller spielenden Paul Desmond) entgegen gebracht wurde, war in Deutschland besonders groß – und der Essener Mitschnitt dokumentiert dies eindrucksvoll: Über 12000 Besucher in der riesigen Grugahalle gerieten schier aus dem Häuschen. Michael Naura - damals Leiter einer der populärsten Jazzbands in Deutschland, mit der er die Essener Jazz-Tage eröffnet hatte - beschreibt das musikalische Glaubensbekenntnis einer wachsenden Fangemeinde, der Brubeckianer:
„Fast eine Sekte, die wie unser Vorbild in einem Bebop-freien Biotop lebte. In unserer Brubeck-Begeisterung, die sehr deutsch, sehr bürgerlich war, scheuten wir den Jazz der schwarzen Amerikaner. Zu hektisch, zu wirr, zu aggressiv. Wenn der Milhaud-Schüler Brubeck Melodieseligkeiten spielte, schlossen wir beglückt die Augen. Selbst als Brubeck komplexere Kompositionen spielte, auch als eine gewisse Gichtigkeit im Bereich der Rhythmik zu befremden begann, hielten wir ihm die Stange. Fast hätten wir gesungen ‚Ein feste Burg ist unser Brubeck.'“
Der 39-jährige Pianist trat in direktem Anschluss an das Oscar Pettiford Trio auf, das in seinem zweiten Set den Tenorsaxophonisten Coleman Hawkins als Gast präsentierte hatte (der Mitschnitt erscheint im Rahmen dieser CD-Reihe). In der Mai-Ausgabe des Jazz Podium rezensiert Karl-Heinz Nass: „Diesem Quartett im Programm ein zweites, noch dazu in fast dergleichen Besetzung, folgen zu lassen, hätte zur Katastrophe, zu gähnender Langeweile führen können, wenn es sich nicht um eine ganz andersartige und dabei ebenfalls großartige Gruppe gehandelt hätte: das Dave Brubeck Quartett.“ Er preist die Band und jeden einzelnen Spieler, kulminierend in einer bemerkenswerten Aussage über Joe Morello: „Bei ihm ist sogar ein Schlagzeugsolo ein Vergnügen.“ Eine Referenz an das Drum-Feature in „Sounds of the Loop“. „Blue Rondo a la Turk“ spielt bereits im Titel auf die Verbindung dreier unterschiedlicher Kulturelemente an: auf das Nebeneinander von bluesorientierter Jazzimprovisation, einer aus der Klassischen Musik übernommenen Rondo-Form und eines aus der türkischen Volksmusik entlehnten 9/8-Taktes. Die Band hatte das Stück im Sommer des Vorjahres für ein Album eingespielt, das zu einem Meilenstein werden sollte, Time Out. Der eigentliche Hit dieser LP taucht im Essener Repertoire nicht auf: „Take Five“, ein späterer Dauerbrenner, den aus dem Programm zu streichen sich Brubeck in der Folgezeit kaum noch leisten konnte.
Karsten Mützelfeldt