Jazzline N 77001 (CD) / N 78001 (LP)
ALSO AVAILABLE IN VINYL 180g DIRECT METAL MASTERING
1959 BONN, BEETHOVENHALLE
Beschreibung
„Ich erwiderte, langsam Bedenken zu bekommen, dass ich nach fünf Jahren Salonjazz aus dem 18. Jahrhundert nicht mehr in der Lage wäre, die drums wieder so zu spielen, wie ich es wollte.“
Eine Reaktion des ersten MJQ-Schlagzeugers Kenny Clarke auf die Bitte John Lewis’, in der Band zu bleiben. Er empfand dieses dezent swingende Kammerensemble zunehmend als ein Korsett, das seinen lang gehegten Wunsch, Amerika zu verlassen, nur noch verstärkte. Lewis versuchte ihn mit lockenden Gagen zu halten - vergeblich. Mit Connie Kay als Nachfolger hatte sich jene Formation konstituiert, die ohne weiteren personellen Wechsel über ein Vierteljahrhundert Bestand haben sollte.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Band, die gemeinhin als „langlebigste Formation des Jazz“ gilt, immer wieder vor der Auflösung stand und ihr Vibraphonist bereits Anfang der 50er an einen Ausstieg dachte. Ein nicht unerheblicher Reiz des MJQ lag in der künstlerischen Spannung zwischen dem Vibraphonisten Milt Jackson und dem Pianisten Lewis. Eine Spannung, die im Übrigen bisweilen über musikalische Differenzen hinausging. Was diese beiden so unterschiedlichen Musikpersönlichkeiten im Kleinen verkörperten, verband das Quartett als Ganzes: ein eigentümliches Zusammentreffen von geradezu klassischem Formbewusstsein und schwarzem Bluesfeeling. Vier sich seriös gebende und seriös musizierende Männer, die dem musikalischen Wertesystem des mit europäischer Kunstmusik sozialisierten Mittelstandes entgegenkamen und gleichzeitig den Reiz afro-amerikanischer „Exotik“ (mit einer wohlgemerkt: milden Dosis) befriedigten. Der Pianist und spätere NDR-Jazzredakteur Michael Naura (der selbst eine Band mit Vibraphon leitete) formulierte das Faszinosum MJQ so: „Das Modern Jazz Quartet ist sozusagen der Gegenentwurf zu dem etwas abfälligen Diktum, dass der Jazz Krach sei. Es hat eine geradezu groteske europäische Komponente eingeführt, nämlich den Wohlklang… im Smoking - ich dachte, was ist das?!? Ein merkwürdiger Traum!“
Deutschland war dem Charme der vier Herren erlegen. Kein Land auf der Welt, das in den 50er Jahren die Band mehr feierte. Eine Rezeption, die sich im Verlaufe der zunehmend politisierten 60er ändern sollte – kulminierend in einer den wohltemperierten Schönklang brandmarkenden Entrüstung bei den Berliner Jazztagen 1965, deren Publikum sich ob seiner Buh-Freudigkeit weltweit einen zweifelhaften Ruf förmlich erschrie.
Direkt nach dem Bonner Konzert notierte Dieter Zimmerle für das Jazz Podium: „Der Rezensent sieht sich wie so oft in einer merkwürdigen Situation. Er hat sich zu Zeiten der Hochstimmung für das MJQ kritisch mit der Konzeption John Lewis’ auseinandergesetzt und sich damit einer – vorsichtig ausgedrückt – gewissen Verwunderung seitens vieler Jazzfreunde ausgesetzt. Jetzt aber, wo das MJQ sozusagen zum ‚alten Hut’ gestempelt wird, spürt er erneut eine Verwunderung, wenn er sich nicht skeptisch Lewis gegenüber ausspricht. Dabei weiß er, dass mit Ornette Coleman, mit dessen Musik er sich bereits auseinanderzusetzen hatte, ein neuer Stern aufgegangen ist, dem unabhängig seines tatsächlichen Formats nun dasselbe ‚Hosianna’ und ‚Kreuziget ihn’ bevorsteht, das ihm eine jeweils entsprechend infizierte Menge entgegen ruft.“
Der Rahmen, das Ambiente passte: ein klassischer Musentempel, die Beethovenhalle. Einst gebaut auf Initiative von Franz Liszt anlässlich des ersten Beethovenfests in Bonn 1845, wegen Feuergefahr alsbald abgerissen, zum 2. Beethovenfest 1870 neu errichtet, 1944 bei einem Bombenangriff zerstört. Das heutige Gebäude wurde 1959 fertig gestellt.
Während das Modern Jazz Quartet noch spielt, planen einige Männer im unweiten Köln einen Kurzausflug nach Bonn, allesamt Stammgäste einer Lokalität, die mit der Beethovenhalle so gar nichts gemein hat: der Kintopp Saloon (wahrlich kein Ort für „Salonjazz“), eine der ersten Studentenkneipen in Köln, in der gejammt wurde und die Anlaufstelle für viele Mitglieder der Edelhagen Band war. Dort hatte man im Vorfeld vom Konzert des MJQ gehört und im Wissen, dass die Musiker in Köln übernachten würden, sich mit einigen Autos aufgemacht, um das MJQ nach Auftrittsende abzuholen. Das Ganze verzögerte sich, da die Band anschließend in der bereits leeren Beethovenhalle noch einen Titel für eine amerikanische Fernsehstation spielen musste. Friedel Dötsch, der später am Zülpicher Platz die Jazzkneipe Metronom eröffnen sollte, nahm in seinem Kombi Percy Heath samt Bass mit. Und es kam zu dem, was alle erhofft hatten: Die US-Stars jammten im Saloon – bis auf einen: John Lewis zog es vor, direkt ins mondäne Dom-Hotel zu gehen, mit der Bemerkung, er sei dafür „zu alt“…
Karsten Mützelfeldt