Jazzline N 77005 (CD) / N 78005 (LP)
ALSO AVAILABLE IN VINYL 180g DIRECT METAL MASTERING
1960 ESSEN, GRUGAHALLE
Beschreibung
Rassismus und die Geringschätzung improvisierter Musik im "Mutterland des Jazz" treiben in den 50er und 60er Jahren immer mehr Amerikaner nach Europa. Das angenehmere kulturelle Klima und bessere Arbeitsbedingungen ist nur die eine Seite des europäischen Exils. Die andere: ein allmählicher Bedeutungsverlust, langsam aber sicher droht die amerikanische Szene ihre entlaufenen Protagonisten zu vergessen. Für ihre erhoffte Akzeptanz als Künstler zahlen die Neuankömmlinge langfristig ein hohen Preis: Für Jahre weit ab des jazzmusikalischen Epizentrums New York operierend, verliert die internationale Öffentlichkeit sie langsam aus den Augen und Ohren.
Als Bud Powell, Oscar Pettiford und Kenny Clarke 1960 bei den Essener Jazztagen auftreten, unterstreicht der Bühnenansager Joachim-Ernst Berendt ihre historische Bedeutung nachhaltig - wohl wissend, dass die drei Wahlpariser nicht mehr im Rampenlicht stehen.
„Meine Damen und Herren, liebe Jazzfreunde! Es gibt viele gute Jazzmusiker, aber es gibt nur wenige, die einen so wesentlichen Beitrag zur Jazzgeschichte geleistet haben, dass dieser Beitrag in allem, was nach ihnen gespielt wird, in der Jazzmusik spürbar bleibt...Ich bin jetzt in der glücklichen Lage, Ihnen ein Trio ankündigen zu dürfen, dessen drei Musiker jeder einzelne einen wesentlichen, nach wie vor spürbaren Eingriff und Einfluss auf die Jazzgeschichte geübt hat - das Oscar Pettiford Trio!“
Dass Berendt ein Klavier-Trio unter dem Namen des Bassisten ankündigte, mag in Zeiten, da die hierarchische Vorrangstellung eines Pianisten noch unbestritten war, verwundern. Er dürfte seine Gründe gehabt haben. Powells psychischer und physischer Zustand war in jenen Jahren alles anderes als stabil, ihn zu verpflichten immer mit einem gewissen Risiko verbunden. Zum anderen hatte Pettiford eine zeitlang in Deutschland gelebt, und zwar in der Stadt, die die Wirkungsstätte des damaligen SWF-Jazzredakteurs war, Baden-Baden. Eine persönliche Freundschaft zwischen Beiden, die über die professionelle Zusammenarbeit hinausging, mag Berendt mit dazu bewogen haben, dem Bassisten die nominelle Leitung zu übertragen. Die Tatsache, dass eine seiner Kompositionen im Repertoire auftauchte, dürfte damit weniger zu tun haben: Bereits 1956 hatte Powell unter eigenem Namen „Blues in the Closet“ aufgenommen (mit Ray Brown und Osie Johnson). Berendt sagt den Titel mit einem Anflug von Scham an:
„Das Oscar Pettiford Trio spielt zunächst ein Thema von Dizzy Gillespie, ‚Shaw Nuff', und dann Oscar Pettifords bekannteste Komposition, einen Blues mit einem Titel, der eigentlich nur Oscar Pettiford einfallen kann – man sagt das nicht so gerne an, aber das Stück heißt nun einmal so: ‚Blues in the Closet'.“
Als habe Pettiford ein mögliches Naserümpfen geahnt, wurde das Stück des Öfteren unter der unverfänglicheren (und Plattenfirmen genehmeren) Überschrift “Collard Greens And Black-Eyed Peas“ aufgenommen – benannt nach einer kulinarischen Südstaaten-Spezialität… Der Rezensent des Jazz Podium Karl-Heinz Nass fühlt sich bei der Nennung des Originaltitels bemüßigt darauf hinzuweisen, dass ‚closet' „entgegen anders lautender Meinungen ‚Abgeschiedenheit'“ bedeute.
Als im zweiten Set Coleman Hawkins zum Trio stößt, kündigt ihn Berendt als „alten Herren“ an – und spielt damit eher auf das äußere Erscheinungsbild des Tenoristen an:
„Der ganze alte Jazz spielt sich fast ohne Saxophon ab. Erst Coleman Hawskins hat das Saxophon im Jazz heimisch gemacht, er ist der Vater des Tenorsaxophons. Das Erstaunliche ist, dass dieser alte Herr mit seinen 56 Jahren immer noch und gerade in der letzten Zeit eine Vitalität entwickelt, mit der er viele seiner jüngeren Nachfahren und Schüler an die Wand bläst. Ich darf ihnen vorstellen: Coleman Hawkins!“
Sein Essener Auftritt mit drei Bop-Ikonen war alles andere als eine ästhetische Fehl-Kombination: Der Saxophonist, ein idealtypischer Mittler zwischen Tradition und Moderne, hatte ab 1940 die Gegenwart der jungen Avantgardisten gesucht, Powell, Clarke als auch Pettiford, mit dem er 1945 ein Trio leitete, waren ihm seitdem bestens vertraut. Die abschließende Komposition „Stuffy“ steht exemplarisch für jenen Mischstil, jenen Semi-Bebop, den Coleman Hawkins damals zu kultivieren begann.
Pettiford hatte sich 1958 nach einer Jazz At The Philharmonic-Tour in Europa niedergelassen, arbeitete zunächst in Baden-Baden mit Hans Koller und Attila Zoller, danach zog es ihn nach Wien und Kopenhagen, wo er fünf Monate nach dem Essener Konzert, im September 1960 verstarb. Kenny Clarke lebte seit 1956 in Paris, die in Köln beheimatete Kenny Clarke-Francy Boland Big Band brachte ihn in den Folgejahren häufig nach Deutschland und auch Bud Powell tauchte nach seiner Übersiedlung nach Frankreich bereits zum zweiten Mal in Essen auf. Im Vorjahr konnte man ihn mit Pettiford und Clarke an der Seite Rolf Kühns erleben und die Rhythmusgruppe als Begleiter von Martial Solal. Doch 1960 präsentierten sie sich als eigenständiges Trio – zum ersten und zum letzten Mal.
Karsten Mützelfeldt