Leopard D 77072 (2CD)
LIVE AND UNRELEASED
Beschreibung
Als sie am 2. Juli 1980 im legendären Hamburger Club Onkel Pö’s Carnegy Hall auf der Bühne standen, feuerten die Brecker Brothers aus allen Rohren. Diese Gruppe, Inbegriff der bahnbrechenden und populären Jazz-Funk Fusion Band, wurde 1975 gegründet und befand sich, nach der Veröffentlichung des von George Duke produzierten Albums Detente zwei Monate zuvor, mitten in einer Tournee durch Europa. „Das war eine verdammt gute Tournee“, erinnert sich der Trompeter und Komponist Randy Brecker. „Die Band hat es jeden Abend richtig krachen lassen. Zu der Zeit sind wir schon eine ganze Weile gemeinsam aufgetreten und haben uns zu einem eng verbundenen Ensemble entwickelt. Wir waren damals alle in absoluter Topform.”
Live and Unreleased ist ein klanglich brillantes Dokument der Brecker Brothers. Die Aufnahme dokumentiert, wie Randy und sein Bruder Mike (gemeinsam mit dem Gitarristen Barry Finnerty, dem Keyboarder Mark Gray, dem Bassisten Neil Jason und dem Drummer Richie Morales) geradezu heroische Interpretationen von vier Nummern aus Detente, zwei weiteren klassischen Kompositionen von Randy, nämlich „Some Skunk Funk” und „Sponge“ vom 1975er Debutalbum der Brothers, sowie „Inside Out” und „East River” vom 1978er Album Heavy Metal Be-Bop, eine Nummer vom 1977er Album Don’t Stop the Music (eine Marathonversion von „Funky Sea, Funky Dew”), und mit Straphangin‘ einen Vorgeschmack auf den Titelsong ihres 1981er Albums, abliefern.
„Wir waren in diesem Sommer auf vielen grossen Festivals in Europa”, erinnert sich Randy. „Onkel Pö aber war etwas ganz anderes; viel intimer und wir sind wirklich gerne dort aufgetreten.”
Auf diesem aufregenden 2-CD Set ist der hohe Wohlfühlfaktor und die Risikobereitschaft deutlich spürbar. Aufgenommen wurden die Nummern nur einen Monat nachdem Michael Brecker, der Gigant unter den Tenorsaxophonisten, auf Pat Methenys kompromisslosem Post-Bop Studioalbum 80/81 (aufgenommen in Oslo, Norwegen), Seite an Seite mit dem Saxophon-Kollegen Dewey Redman, dem Bassisten Charlie Haden und dem Drummer Jack DeJohnette, mitgewirkt hat. Während des gesamten Abends ist Finnerty mit seinen stechenden Gitarrenlicks ein formidabler Gegenpol zu den Brüdern und Mark Gray begegnet uns als erstklassiger Solist am Synthesizer. Ähnlich wie Finnerty und den Brecker Brothers selbst, war auch Gray völlig in die Sprache des Bebop eingetaucht, während er doch gleichzeitig auch gerne die technologischen Möglichkeiten von Prophet V und Mini-Moog aufgriff. Dazu kommen noch die slammigen Rhythmen von Drummer Morales und dem Bassisten Jason und es entsteht jene kraftvolle und innovative Mischung, die den 80er Jahre Fusion-Sound mitdefiniert hat.
CD 1 eröffnet mit einer erweiterten Version von „Straphanging”, einer Komposition von Michael Brecker, die mit einer augenzwinkernden klassischen Ouvertüre überrascht, bevor sie in vollkommenen Funk übergeht. Randy eröffnet sein Solo mit einigen Crybaby Wah-Wah Trompetenakzenten, bevor ein Trommelfeuer ungekünstelter hoher Töne hervorbricht. Michael folgt darauf mit einem gemächlichen Solo, das sich langsam zu ekstatischen und für ihn charakteristische Doubletime-Salven aufbaut. „Mike wollte diesen Song eigentlich gar nicht spielen“, lässt Randy wissen: „Er hielt die Nummer für zu kitschig. Ich glaube ihm gefiel der Beginn, aber die Brücke, wo es in diese ‚Sunny‘-Momente übergeht, fand er zu schmalzig. Diese Abfolge wurde damals in einer ganzen Reihe von Stücken etwas zur Gewohnheit und Mike konnte sich damit nicht so recht anfreunden. In dieser Nummer passt die Struktur aber wunderbar. Man erwartet diese Wendung nicht, das gefällt mir.“
Michaels „Tee’d Off” (vom Album Detente) ist ein melodischer Beitrag, in dem das Saxophon einige feurige Momente einfließen lässt, komplett mit Vorstößen in das obere Register und den charakteristischen Doubletimes. Finnerty folgt und bereichert den Song mit gekonntem Speed Picking. „Wir haben die Nummer auf dieser Tour oft gespielt“, erinnert sich Randy. „Aber danach nicht mehr oft, warum auch immer. Es ist ein großartiger Song.“
Randys „Sponge” (vom Album Brecker Bros.), das in der originalen Studioversion nur vier Minuten dauert, ist hier auf beinahe zehn Minuten erweitert. Dieser Jazz-Rock Klassiker steckt voller komplizierter Hits und ungerader Intervalle. Für den Trompeter ergeben sich darin große Solomomente mit Funk-Groove Elementen, bevor er sich auf ein Rede-und-Antwortspiel mit seinem Bruder Mike einlässt, das mit schwungvollem Wah-Wah erfüllte ist. Finnerty und Gray liefern sich ebenfalls einige glühende Wechsel in dieser tiefgehenden Nummer, die Randy auch heute noch bei Live-Auftritten mit der Brecker Brothers Band Reunion spielt. „Wir eröffnen normalerweise unsere Auftritte mit diesem Song, vor allem wegen der interessanten Wechselspiele“, sagt er. „Es ist ein ideales Stück um die ganze Band vorzustellen. Die Grundidee dahinter ist ein bi-tonales Funk-Stück, in dem mehrere Tonarten zum Einsatz kommen und eine James Brown Idee im Zentrum steht. Auch einige sehr gelungene, ineinandergreifende Melodien sind enthalten. Es ist eine Freude, die Nummer zu spielen.“
Michaels „Funky Sea, Funky Dew” (vom Album Don’t Stop the Music) geht weit über die ursprünglichen 6:13 Minuten hinaus und erstreckt sich über erstaunliche 19 Minuten. Es eröffnet mit vollem, erdigem Saxophonklang, bevor das Stück in einen knallharten Funk-Abschnitt übergeht und schließlich Finnerty ein feuriges Solo abliefert. Bei der 9:30 Minuten-Marke steigt die Band aus und Mike liefert über weitere 9 Minuten eine virtuelle Meisterklasse in der Kunst des E-Saxophons. Dieses umwerfende Solo ist ein Vorläufer von Mikes elektronischen Ausflügen mit der EWI, die er später mit Steps Ahead und dann Anfang der 90er Jahre mit Return of the Brecker Brothers und als Gast auf Tournee mit Paul Simon, unternahm. Randy erinnert sich: „Im Studio konnte er das Stück nicht soweit ausdehnen, aber auf der Bühne war es jeden Abend dasselbe. Wir haben uns eine kleine Pause gegönnt, während er wild vor sich hin spielte, das war gut für meine Chops. Wir haben Mike einfach machen lassen und der Rest von uns konnte sich für ein paar Minuten zurücklehnen.“
CD2 eröffnet mit Michaels lyrischer Nummer „I Don’t Know Either“ (vom Album Detente). „Das ist ein großartiger Song“, so Randy. „Man kann an dieser Nummer und auch an ‚Tee’d Off’ erkennen, dass Mike damals ernsthaft damit begonnen hat, selbst auch Lieder zu schreiben. Zuvor musste man Mike immer ein bisschen zum Komponieren zwingen. Er war die ganze Zeit damit beschäftigt am Horn zu üben und musste erst überredet werden, etwas zu schreiben. Wir haben damals, am Klavier sitzend, lange Gespräche geführt und uns die unglaublichsten Motive ausgedacht. Ich glaube, dass es in dieser Zeit gewesen ist, dass er begann bei einem Typen namens Edgar Grana Kompositionsunterricht zu nehmen. Seine Fähigkeiten als Komponist haben sich damals dadurch natürlich rasant verbessert.”
Die vorwärtsstürmende Shuffle und Blues Nummer „Inside Out” (vom Album Heavy Metal Be-Bop) ist Randys Verneigung vor Benny Golsons „Blues March”, mit einigen für die Breckers typischen Kniffen. „Was ich erreichen wollte, lässt sich am Titel erkennen“, erklärt Randy. „Es beginnt ziemlich charmant, mit für den Blues typischen Shuffle-Akkorden und dann wird es zum Ende hin langsam harmonischer. Im Grunde ist es ein abgeänderter Blues, der mit einer normalen Harmonik beginnt und sich langsam in etwas anderes verwandelt. Es ist ein richtiger Spaß das Stück zu spielen, da man es ausdehnen kann, wie man will.“ Gray steuert hier ein langes Mini-Moog Solo bei. Ihm folgt Randy, der mit einem Wah-Wah-gefärbten Trompetensolo noch einmal richtig nachlegt. Mike stößt in der sechsten Minute dazu und bläst kräftig in seine funk machine (einem damals beliebten Filter, der automatisch einen Wah-Wah Effekt generierte). An der 8:45 Marke folgt Finnerty mit einem bluesigen Gitarrensolo, das auch sein Faible für flink gespielte Salven klar erkennen lässt. Und beachten sie den Übergang bei 6:45, während Mikes Solo, wo sich die Band mit Elementen aus Freddy Kings Blues-Klassiker „Hideaway” zu Wort meldet. Dazu Randy: „Ich glaube nicht, dass wir das jeden Abend gemacht haben. Aber manchmal entstand ganz nebenbei etwas Gutes und dann haben wir das in die Show eingebunden.”
„Baffled” (vom Album Detente) ist eine funkige Variante von Randys Originalversion und ist ein hervorragendes Beispiel für sein Können als Arrangeur. Drummer Morales ist hier voll in seinem Element und liefert ein feuriges Solo ab, in dem er Latin-Elemente und an Cobham erinnernde Raserei einfließen lässt. Randy folgt mit einemumwerfenden Solo am Horn.
Das hymnische „Some Skunk Funk” (ursprünglich auf dem Album Brecker Bros. und auch auf der Liveaufnahme Heavy Metal Be-Bop zu hören) kommt in einem höllischen Tempo daher. Randy erinnert sich: „Diese Nummer hat sich zu so etwas wie einer Mutprobe für junge Musiker entwickelt. Die technischen Herausforderungen des Stücks sprechen Musiker an. Es ist schwierig und hat sich als Teil des Fusion-Repertoires fix etabliert, also wollen sich junge Musiker natürlich daran versuchen. Es ist ein bisschen so wie mit den Billy Cobham Klassikern — ‚Red Baron’ and ‚Crosswinds.’ Alle der sogenannten Fusion-Musiker wollen diese Stücke spielen. Und mir geht es genauso wie den anderen. Ich bin immer noch ein Fan von ‚Skunk Funk.’” Mike bringt hier einmal mehr mit seinen Wah-Wah Effekten das Haus zum Beben. Jason folgt mit einem hitverdächtigen Bass-Solo, in dem er abwechselnd Mu-Tron Klänge und ansehnliche Slap-Bass Chops hören lässt.
Jason ist in „East River”, einer eindrucksvollen Slam-Funk Nummer aus dem Album Heavy Metal Be-Bop, als Sänger zu erleben. Michael lässt sich darin von King Curtis inspirieren und auch die kraftstrotzenden Brecker Brother Hörner kommen in diesem Stück zum Einsatz. „Es ist ein Song, den Neil gemeinsam mit einem Typen namens Cash Monet geschrieben hat,” erklärt Randy. „Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, was sein echter Name war. Was mich betrifft, so war er einfach Ralphy aus Brooklyn. Die beiden haben damals viel gemeinsam geschrieben und hatten viele Songs auf Lager. Wir haben uns damals Heavy Metal Be-Bop ausgesucht, weil Clive Davis (der Präsident von Arista Records) zu uns gesagt hat, ‚OK, wir machen eine Live-Aufnahme, aber ihr müsst mir auch eine Single liefern, sonst geht es nicht.‘ Also haben wir uns ins Studio gesetzt und für die Aufnahme dieser einen Nummer so viel Geld ausgegeben, wie für den Rest des Albums, der auf Long Island in einem Club namens My Father’s Place live aufgenommen wurde. Aber ich bin immer noch ein großer Fan dieser Nummer.“
CD 2 schließt mit Randys humorvoller, an Zappa erinnernden Gesangsnummer „Don’t Get Funny With My Money” (vom Album Detente). Koautor des Songtexts war Luther Vandross, der schon als Background-Sänger auf dem zweiten Album der Becker Brothers, Back To Back, aus dem Jahr 1976 in Erscheinung getreten ist. Diese Nummer bietet lange Solos von Gray auf der Prophet V und feurige, elektrisierende Wechsel zwischen Mike, Randy und Finnerty.
Zehn Monate nach ihrem Liveauftritt in Onkel Pö’s Carnegie Hall veröffentlichten die Brecker Brothers mit Straphangin’ ihr sechstes und letztes Album, bevor sich die Band 1982 auflöste. Zehn Jahre später, im Jahr 1992, starteten sie die funk machine mit dem Album Return of the Brecker Brothers nochmals durch. Mit Live and Unreleased liegt nun ein weiterer wichtiger Beitrag zum Oeuvre der Brecker Brothers vor. — Bill Milkowski
Bill Milkowski schreibt seit vielen Jahren für die Magazine DownBeat und Jazzthing. Er ist auch der Autor von „JACO: The Extraordinary and Tragic Life of Jaco Pastorius”